Lebenslang
Sprechanlage blieb stumm. Nur der Häcksler schredderte weiter.
Yvonne kannte diesen Ort. Sie spürte, dass sie hier schon einmal gewesen war. Zu einer anderen Zeit. In einem anderen Leben.
»Da lang«, sagte sie und deutete die schmale Straße hinunter zu einer Brücke, hinter der sich rechts ein Weg im Wald verlor.
All dies hier war ein überwältigendes Déjà-vu, aber es gab keine konkrete Erinnerung, die ihr den Weg wies. Sie ging durch den Wald wie eine Blinde, die mit ihren anderen Sinnen sehen musste. Yvonne musste sich auf ihren Instinkt verlassen, wenn sie die Stelle am See finden wollte.
Nach zehn Minuten erreichten sie eine hölzerne Aussichtsplattform, die in den See hineinzuragen schien. Ohne weiter zu überlegen, bog sie rechts ab. Alles war anders. Die Bäume waren größer, das Dickicht dichter, als sie dachte. Doch der Geruch war vertraut. Nach zweihundert Metern verließ sie den einsamen Waldweg. Yvonnes Herz begann jetzt zu rasen, die Füße kribbelten, als sie nach links zeigte.
»Da hinten ist es«, sagte Yvonne und schluckte trocken. Je näher sie der Stelle am Seeufer kamen, desto schwacher fühlte sie sich. Schweiß floss ihr in dünnen Rinnsalen den Rücken hinab, bildete einen kalten und klebrigen Film auf ihrer Haut.
Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf, versuchten sich mit der Realität in Deckung zu bringen, was aber nicht ganz gelang, denn die Dinge hatten sich verändert, obwohl sie den Uferabschnitt jetzt erkannte.
Yvonne stolperte und wurde im letzten Moment von Thomas aufgefangen. Ihr Gesicht fühlte sich kalt an, die Hände taub. Unsichtbare Fliegen umsurrten sie, und Yvonne roch den unerträglichen Gestank verwesenden Fleisches.
»Hier ist nichts«, sagte Thomas.
Yvonne öffnete die Augen. Die Stelle am Ufer war zugewachsen. Die Bäume, die ringsum wuchsen, waren so groß, dass sie zuerst glaubte, sie hätte sich geirrt. Doch der Blick, den man von hier aus auf das andere Ufer hatte, hatte sich nicht verändert.
»Hier ist es geschehen.« Yvonne hob einen Ast auf und begann, das Unterholz beiseitezudrücken. Sie fand Müll, eine schmutzige Plastiktüte, eine leere Bierflasche. Aber keine Leiche. Yvonne ließ verwirrt den Stock fallen. »Ich habe mir das nicht eingebildet.« Sie bückte sich nach einem großen, scharfkantigen Stein und sah ihn fragend an, als könnte er das Rätsel lösen.
»Lass uns gehen«, sagte Thomas. Er streckte seinen Arm aus, doch sie bemerkte die dargebotene Hand nicht. »Yvonne?«
Sie hatte stumme Tränen in den Augen. Thomas berührte sie sachte am Arm.
»Es war hier«, sagte Yvonne verzweifelt, trotzig und hilflos. »Ich erinnere mich.«
»Ja. Ich glaube dir.« Thomas nahm ihr den Stein aus der Hand und warf ihn in den See. Kreisförmige Wellen verloren sich auf der spiegelglatten Oberfläche. Dann zog er sie zu sich die Böschung hinauf. »Dennoch sollten wir gehen.«
Es war kein Wochenende, und der Abend war noch nicht hereingebrochen. Deswegen waren die meisten Lauben der Schrebergartenkolonie leer und verwaist. Nur ein alter Mann, das graue Haar schweißnass, die nackten Beine in Gummistiefeln, schickte seine Gartenabfälle durch einen Häcksler. Als er Yvonne und Thomas an seinem Gartentor stehen sah, schaltete er das Gerät aus. Der infernalische Lärm erstarb mit einem traurigen Leiern. Stille kehrte ein.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte er und wischte sich die Hände an seiner schmutzigen Turnhose ab.
»Ja, vielleicht. Wir wollen Sie auch nicht lange stören, denn wir haben nur eine Frage«, sagte Thomas. »Hat es hier in der Gegend einen Mord an einem vielleicht zwölf Jahre alten Mädchen gegeben?«
»Ja, aber das ist jetzt schon zwanzig Jahre her, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Und ihre Leiche hat man hinten am Grünen See gefunden?«, fragte Tom.
Der Mann nickte. »Eine schreckliche Geschichte, wir Älteren hier können uns noch gut daran erinnern. Das Mädchen kam aus Steinheim. Man hat sich erzählt, dass ihr Mörder sie schlimm zugerichtet hatte. Selbst die Polizisten waren wohl ziemlich mit den Nerven am Ende. Sie sagten, dass sie so etwas Bestialisches noch nie gesehen hätten.«
»Können Sie sich noch an den Namen des Mädchens erinnern?«, fragte Yvonne.
»Natürlich kann ich das. Ihr Name war Julia Steilberg. Ihre Familie hatte, wie gesagt, hier in Steinheim gewohnt.«
Yvonnes Atem ging schneller. »Wissen Sie auch, wo?«
Der alte Mann musterte jetzt Yvonne, als sei ihm erst jetzt
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