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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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glauben. Yvonne verübelte es ihm nicht, immerhin klang ihre Geschichte auch hochgradig absurd.
    »Erzählen Sie mir einfach alles, was Sie wissen.«
    »Aber es sind Informationen aus zweiter oder dritter Hand. Ich selber habe vor zwanzig Jahren nicht hier gewohnt.«
    »Trotzdem«, beharrte Yvonne.
    »Also, nach dem, was ich weiß, hat man den Onkel nach vier Tagen verhaftet. Sein Name war Wieland Lenz. Die Beweislast muss erdrückend gewesen sein, obwohl er immer wieder beteuerte, dass er seine Nichte nicht umgebracht hätte.«
    »Was ist mit den Steilbergs geschehen, nachdem der Bruder der Frau verhaftet und verurteilt worden war?«, fragte Thomas.
    »Die Mutter ist weggezogen. Und der Vater war eines Tages verschwunden.«
    »Was heißt das, er war verschwunden?«, fragte Yvonne. »Er hat seine Sachen gepackt und ist gegangen?«
    »Er ist gegangen, das stimmt. Aber seine Sachen hat er nicht gepackt. Alles, was er besaß, hat er zurückgelassen: Dokumente, Ausweispapiere, Kreditkarten. Sogar das Auto hat er stehen lassen. Der Haustürschlüssel steckte im Schloss. Und es gab keinen Abschiedsbrief. Das ist zumindest das, was man sich erzählt.«
    »Oh mein Gott«, murmelte Thomas.
    »Ja, die ganze Sache muss für den armen Kerl schrecklich gewesen sein.«
    Yvonne versuchte, den roten Faden in der Geschichte zu finden. Julia Steilberg war an einem Sommertag vor zwanzig Jahren ermordet worden. Wenige Tage später wird der Bruder der Mutter verhaftet, der aber stets beteuerte, nichts mit dem Tod seiner Nichte zu tun zu haben. So weit mochte das alles zwar tragisch, aber nicht ungewöhnlich sein. Der Einzige, der aus dem ganzen Schema herausfiel, war der Vater. Es wäre verständlich gewesen, wenn er seine Sachen gepackt hätte, um woanders vielleicht ein neues Leben aufzubauen. Oder hatte er sich umgebracht? Aber warum hatte er das dann nicht in seinem Haus getan? Er hatte auf niemanden mehr Rücksicht nehmen müssen. Seine Familie existierte nicht mehr. Ihm konnte es egal sein, wer ihn fand! »Ist seine Leiche irgendwann aufgetaucht?«, fragte Yvonne.
    Schwindt zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber soviel ich weiß, nicht. Wie gesagt, wir sind erst hier eingezogen, als die Ereignisse schon fünfzehn Jahre zurücklagen.«
    »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Yvonne und stand auf. Thomas nahm die beiden leeren Tassen und wollte sie in die Küche bringen.
    »Lassen Sie sie einfach stehen«, sagte Schwindt. »Ich räume sie später weg.«
    »Danke«, sagte Thomas.
    Schwindt brachte die beiden zusammen mit seiner Tochter noch an die Tür. Die Kleine hatte die Hand ihres Vaters ergriffen und winkte schüchtern.

H eute ist Wieland zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden. Lebenslang. Das heißt, wenn er Glück hat, ist er in zwanzig Jahren wieder draußen. Julia, die dann dreißig gewesen wäre und vielleicht eine Familie gehabt hätte, mit eigenen Kindern, ist tot und wird nicht wiederkommen. Das Urteil ist kein Triumph für mich. Ich bin Nebenkläger gewesen, doch ich habe die Verhandlung nicht besucht. Ein Anwalt hat das übernommen. Bis zum Schluss hat Wieland geschworen, dass er es nicht war, aber die Beweise haben ihn erschlagen. Auch wenn es keine Zeugen gegeben hat, die gesehen haben, wie er Julia auf dem Heimweg vom Supermarkt getroffen hat und sie zu ihm ins Auto gestiegen ist. Obwohl niemand weiß, was in diesem Auto geschah. Obwohl man nur annehmen kann, dass Julia damit gedroht hat, ihn zu verraten und alles mir und ihrer Mutter zu sagen. Obwohl niemand gesehen hat, wie er mit ihr zum Wald fuhr, um sie zu töten.
    Obwohl niemand ihre Schreie gehört hat.
    Die Indizien haben ausgereicht. Und trotzdem fühle ich keine Befriedigung. Astrid ist gegangen, ich musste sie noch nicht einmal dazu auffordern. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Es ist, als hätte sie nie gelebt. Von mir aus kann sie tot sein, mir ist es egal. Julias Zimmer ist noch immer unverändert, aber alle Sachen, die mit meiner Frau zu tun hatten, habe ich auf den Müll geschmissen, ihr Gesicht aus allen Fotos geschnitten. Ohne sie würde Julia noch leben. Ohne sie würde ich noch weiterleben wollen.
    Es ist erstaunlich schwierig, in einem Haus eine Möglichkeit zu finden, an der man einen Strick befestigen kann. Es gibt keine Haken, die stabil genug in der Decke verankert sind, um mein Gewicht zu halten. Schließlich kommt mir der Dachboden in den Sinn. Über der Luke befindet sich ein Balken. Wenn ich diese Luke

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