Lebenslügen / Roman
er wird immer noch bestraft.«
»Wer sind Sie, Mutter Teresa?«
»Nein, aber er wurde verurteilt, er hat bezahlt, soll er bis in alle Ewigkeit zahlen?«
»Ja. Bis in alle Ewigkeit«, sagte Louise. »Und noch länger. Machen Sie sich keine Sorgen«, fügte sie hinzu, »wenn Sie in meinem Alter sind, werden sie auch hart und gefühllos sein.«
»Vermutlich, Boss.«
»Ich habe noch nie einen BMW gefahren«, sagte er, setzte sich auf den Fahrersitz und justierte ihn für sich. »Cool. Warum fahren wir nicht mit einem Polizeiwagen?«
»Weil wir nicht als Polizisten unterwegs sind. Streng genommen. Es ist Ihr freier Tag und mein freier Tag. Wir machen eine Spritztour.«
»Eine ziemlich lange.«
»Seien sie bitte vorsichtig mit dem Wagen, Pfadfinder.«
»Ja, Boss. Los geht’s. In die Unendlichkeit und weiter!«
Er war ein guter Fahrer, fast so gut, dass sie sich entspannen konnte. Fast. Also, alte Tante, wir kommen, allzeit bereit oder nicht, dachte Louise. Die Hochstaplertante. Die Posse war possenhafter geworden. Nur dass sie nicht komisch war, aber das waren Possen selten, fand Louise, ihr gefielen Rachetragödien besser. Patrick mochte überraschenderweise (oder vielleicht auch nicht) Komödien aus der Zeit der Restauration. Und Wagner. Sollte man einen Mann heiraten, der Wagner mochte?
Das erste Konzert, das der jugendliche Howard Mason besuchte, war Der Messias von Händel, gesungen von der Bradfort Choral Society, und er hatte während des Halleluja-Chors geweint. Oder verwechselte sie ihn mit einem seiner Alter Ego, seiner imaginären Doppelgänger?
Das Buch, das er in Devon im Winter vor den Morden schrieb, hatte den Titel Die Blaskapelle spielt weiter, und der Protagonist war ein sich abmühender Stückeschreiber (aus dem Norden natürlich), der von Häuslichkeit in Form zweier kleiner Töchter und einer Frau behindert wurde, die ihn gezwungen hatte, aufs Land zu ziehen. Es gab kein zweites, fiktives Selbst für das Baby Joseph, Howard Masons Sohn schien es erspart geblieben zu sein, auf Papier gebannt zu werden.
Nach den Morden hörte Howard Mason auf, sich durch sein Leben zu schreiben, und zog nach Los Angeles, wo er die Drehbücher für eine Handvoll nicht erfolgreicher Spielfilme schrieb. (Wo war Joanna während dieser Zeit?) Als seine Laufbahn als Drehbuchautor im Sand verlief, hing er an einem Swimmingpool in Laurel Canyon herum und produzierte eine langweilige Sammlung Erzählungen über einen britischen Schriftsteller, der in Hollywood arbeitete. Er war kein Fitzgerald. Was Howard Mason nie schrieb (worüber er nicht einmal sprach), war ein Roman über einen Mann, dessen Familie ermordet wurde, während er sich mit seiner schwedischen Geliebten vergnügte. Diese Gelegenheit hatte er nicht wahrgenommen, wahrscheinlich wäre es ein Bestseller geworden.
Reggie hatte heute schon dreimal angerufen. Sie war immer aufgeregt, einmal ging es um ein Autokennzeichen (ein schwarzer Nissan Pathfinder, das Mädchen war eine bessere Augenzeugin als die meisten), und in einem besonders atemlosen Kommuniqué verstand Louise den Namen »Anderson«. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Reggies Phantasien erwiesen sich alle als in der Realität fundiert, aber entführt – wirklich? (Entführt! Dr. Hunter ist entführt worden.) Verrücktes, verrücktes Gerede.
Die dritte Nachricht war eine Aufzählung des Inhalts von Joanna Hunters Handtasche, die Reggie in ihrem Schlafzimmer gefunden hatte – Ihre Brille, wie kann sie ohne Brille Auto fahren? Ihr Asthmaspray. Ihre Geldbörse! Louises Kopfschmerzen erblühten, und sie stellte sich ihr Hirn wie eine Atomexplosion vor, der Pilz wurde immer größer, presste gegen die harten Platten ihres Schädels. Sie schloss die Augen und drückte die Fäuste darauf. Sie hatte das schreckliche Gefühl, dass Reggie Chase recht haben könnte, Joanna Hunter war etwas Schlimmes zugestoßen.
»Lassen Sie das Kennzeichen überprüfen«, sagte sie zu Marcus.
»Warum genau sind wir wegen dieser Tante beunruhigt, Boss?«, fragte er.
»Ich bin nicht wegen der Tante beunruhigt.« Louise seufzte. »Ich bin wegen Joanna Hunter beunruhigt. Es gibt da – ein paar Anomalien.«
»Und wir beide fahren zweihundertachtundfünfzig Kilometer, um an eine Tür zu klopfen?«, wunderte sich Marcus. »Das könnte doch die Polizei dort auch tun.«
»Ja, das könnte sie«, sagte sie geduldig (wesentlich geduldiger als zu Patrick). »Aber stattdessen tun wir es.«
»Und glauben Sie, dass
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