Lebenslügen / Roman
liebt, außer indem ich ihn in Stücke reiße und auffresse.«
»Ein bisschen frische Landluft, um die Spinnweben wegzublasen«, sagte sie zu Marcus. »Genau, was der Doktor empfohlen hat.«
Oder auch nicht. »Wird es wieder spät?«, fragte Patrick, als sie ihn anrief, um ihn von ihrer »kleinen Spritztour« (wie Marcus es beharrlich nannte) zu informieren. »Hätte nicht die Polizei vor Ort der Tante einen Besuch abstatten können?«, fragte er. »Es scheint mir ein weiter Weg. Es ist doch kein Fall, zumindest kein offizieller, oder? Nichts ist passiert.«
»Ich sage dir auch nicht, wie du operieren sollst, Patrick«, fuhr sie ihn an, »insofern würde ich es wirklich zu schätzen wissen, wenn du mich nicht belehrst, wie ich zu ermitteln habe, okay?« Er hatte sie genommen in dem Glauben, dass sie sich unter seiner geduldigen Fürsorge bessern würde, und musste jetzt enttäuscht von ihr sein. Die Rose mit dem Wurm, die Schale mit dem Sprung. Da kann der Doktor nichts machen.
»Du bist sauer auf mich«, fuhr sie fort, »weil ich mich gestern Abend allein betrunken habe, statt mit euch ins ›Theater‹ zu gehen, stimmt’s?« Sie betonte das Wort »Theater«, als wäre es etwas Langweiliges und Mittelklasse, als wäre sie Archie zu seinen schlimmsten pubertären Zeiten.
»Ich werfe dir nicht vor, dass du betrunken warst«, sagte Patrick ruhig und schluckte den Köder nicht. »Das übernimmst du selbst.« Louise überlegte, ob sie ihn umbringen sollte. Einfacher, als sich scheiden zu lassen, und sie stünde vor vielen neuen schwierigen Problemen statt der langweiligen altbekannten. Sie fragte sich, ob ein Teil von Howard Mason erleichtert gewesen war, als seine Familie komfortablerweise ausradiert wurde. Nur Joanna war übrig, ein hartnäckiger Fleck. Es wäre viel besser für ihn gewesen, wenn sie auch umgebracht worden wäre.
»Reg dich nicht so auf«, sagte Patrick. »Deine schottische Streitlust steht dir im Weg.«
»Im Weg wohin?«
»Zu deinem besseren Selbst. Du bist dein schlimmster Feind.«
Sie schluckte die gehässige Bemerkung, die ihre instinktive Reaktion gewesen wäre, und murmelte: »Ja, gut, ich hab viel um die Ohren. Tut mir leid«, fügte sie hinzu. »Tut mir leid.«
»Mir auch«, sagte Patrick, und Louise fragte sich, was genau er damit meinte.
Sie hatten die Grenze überschritten. Über den Tweed. Grenzland.
»Jetzt gelten englische Regeln«, sagte sie zu Marcus.
»Tantenjagd«, sagte er zufrieden. »Sollen wir Musik auflegen, Boss?« Er begutachtete die Maria-Callas- CD und sagte zweifelnd: »Mein lieber Herr Gesangsverein, Boss. Nicht wirklich Musik zum Autofahren, oder? Ich habe ein paar CD s dabei.« Er kramte in seinem Rucksack, holte eine CD -Mappe heraus und zog den Reißverschluss auf. »Allzeit bereit«, sagte er. Ja, natürlich, er war bei den Pfadfindern gewesen. Jemand, der sich freute, wenn er Knoten knüpfen und ein Feuer mit ein wenig Reisig anzünden konnte. Ein Junge, den jede Mutter gern zum Sohn hätte. Und sie hätte ihr letztes Geld verwettet, dass er zur Polizei gegangen war, weil er »etwas verändern« wollte.
»Warum sind Sie zur Polizei gegangen, Marcus?«
»Ach, wissen Sie, die üblichen Gründe. Ich will versuchen, etwas zu verändern, den Leuten zu helfen. Und Sie, Boss?«
»Damit ich den Leuten eins mit dem Schlagstock überziehen kann.«
Er lachte, ein unkompliziertes Lachen, das nicht mit jahrelangem Zynismus befrachtet war. Louise überlegte, welche Musik er für eine »Spritztour« für geeignet hielt. Für Springsteen war er zu jung, zu alt für die Tweenies, die bevorzugte Musik des Babys beim Autofahren. (Komisch, dass auch sie automatisch »Baby« dachte, wenn es um Joanna Hunters Baby ging.) Marcus war sechsundzwanzig, vielleicht mochte er noch die gleiche Musik wie Archie – Snow Patrol, Kaiser Chiefs, Arctic Monkeys –, doch nein, die Musikanlage des BMW wurde von James Blunt verschmutzt, dem König des Easy Listening. Sie neigte sich zu Marcus und leerte mit einer Hand die CD -Mappe auf seinen Schoß: Corinne Bailey Rae, Norah Jones, Jack Johnson, Katie Melua. »Mann, Marcus«, sagte sie. »Sie sind zu jung zum Sterben.«
»Boss?«
An einer Tankstelle tauschte sie den Platz mit ihm. Im Laden sah sie zwei Boulevardzeitungen, die über den verschwundenen Decker berichteten. »Entlassener Mörder untergetaucht.«
»Irgendwie kann einem der Mann leid tun«, sagte Marcus. »Schließlich hat er seine Zeit abgesessen, aber
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