Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
zumindest war eine unumstößliche Tatsache. Also hatte entweder Joanna Hunter ihren Mann angelogen (Ich muss schnell mal Tante Agnes besuchen), oder er hatte alle anderen angelogen (Sie ist zu einer kranken Tante gefahren.) Und was war wahrscheinlicher – dass Neil Hunter log oder die schöne Dr. Hunter? Louise war sich nicht sicher, dass sie die Antwort auf diese Frage wusste. Sie vermutete, dass Joanna Hunter, wenn es hart auf hart kam, ihre Absichten genauso gut verheimlichen konnte wie alle anderen.
    Sie war einmal davongelaufen und hatte sich versteckt, und jetzt tat sie es wieder. Deckers Entlassung musste sie aufgebracht haben. Sie war so alt wie ihre Mutter, als sie ermordet wurde, ihr Baby war so alt wie ihr Bruder. War sie in der Lage, eine Dummheit zu begehen? Sich selbst etwas anzutun? Decker? Hatte sie dreißig Jahre lang Rachegefühle in ihrem Herzen gehegt und wollte jetzt Gerechtigkeit durchsetzen? Das war eine abartige Idee, so etwas taten die Leute nicht. Louise hätte es getan, sie hätte Würfel aus Deckers Knochen und Katzenfutter aus seinem Herzen gemacht, ihn bis ans Ende der Zeit verfolgt, aber Louise war nicht wie andere Menschen. Aber auch Joanna Hunter war nicht wie andere Menschen, oder?
     
    Sie hielten im Zentrum von Hawes an, und Louise stieg aus, schlenderte auf eine Brücke und schaute ins Wasser. Sie fühlte sich haltlos, Louise Ungebunden. Joanna war mit nichts aus ihrem Leben verschwunden (abgesehen von ihrem Baby, das alles war). Ein Trick, um den man sie beneiden könnte. Joanna Hunter, die große Eskapistin.
    »Boss?«, sagte Marcus und blieb neben ihr stehen. »Alles okay?«
    »Gut«, sagte sie, das universelle schottische Wort für alle Befindlichkeiten von »Ich sterbe unter Qualen« bis zu »Ich empfinde euphorische Freude«. »Gut«, wiederholte sie.
    Und dann taten sie, was man in Orten wie diesem tut. Sie gingen in ein Café und tranken Tee.
     
    »Soll ich die Mutter spielen?«, sagte Marcus und hob eine praktische braune Teekanne an, warm gehalten von etwas, was aussah wie eine Pudelmütze.
    »Sie sind in dieser Rolle bestimmt besser als ich«, sagte Louise.
    Sie steckte sich zwei Paracetamol in den Mund und trank einen Schluck dunkelbraunen Tee, der stark genug war, um den Abfluss damit zu reinigen.
    »Ich habe meine Tage«, sagte sie, als Marcus sie fragend ansah. Es stimmte zwar nicht, aber na und.
    »Natürlich«, sagte Marcus und nickte ernst. Oh, diese neuen Männer mit ihrem Respekt vor Frauen, wie waren sie? Sie waren nicht wie David Needler, sie waren nicht wie Andrew Decker, das stand fest.
    Marcus hatte ein Stück Obstkuchen bestellt, und als er serviert wurde, lag eine dicke Scheibe Wensleydalekäse darauf (Käse und Kuchen, was stimmte nicht mit diesen Leuten?).
    »Käääse, Gromit«, sagte er. Süßer Junge. Dummer Junge, aber dennoch süß.
    Louise aß warmen Teekuchen, um die Schmerztabletten verträglicher zu machen. Er schmeckte teigig und blieb ihr im Hals stecken.
    Ihr Handy klingelte – Reggie Chase. Sie stöhnte und ließ sie auf ihre Mailbox sprechen, überlegte es sich anders und wählte Reggies Nummer, um sie zu beruhigen. Sie sollte ihr allerdings nichts von der Tante sagen, das Mädchen könnte einen Nervenzusammenbruch haben, wenn Louise ihr erzählte, dass die Tante tatsächlich krank war und zwar so krank, dass sie unter der Erde lag. Reggies Handy klingelte fünfmal, bevor sich jemand meldete. Jackson.
    »Hallo?«, sagte er. »Hallo?«
    Auch das noch, dachte Louise. Es war nur logisch, dass sich die zwei irritierendsten Personen, die sie kannte, irgendwie zusammengetan hatten.
     
    »Ich bin’s«, sagte sie. Und weil er vielleicht nicht wusste, wer »ich« war, obwohl es ihr gefallen hätte, wenn er es wüsste, fügte sie hinzu: »Louise.«
    »Das ist erstaunlich«, sagte er, und dann war die Verbindung unterbrochen. Was war erstaunlich?
    »Wahrscheinlich schlechter Empfang, Boss«, sagte Marcus. »Zu viele Hügel.«
    Louises Handy klingelte erneut, und sie klappte es auf in der Annahme, dass es Jackson war. »Was?«
    »Wow«, sagte Sandy Mathieson. »Nur die Ruhe. Läuft die ›kleine Spritztour‹ nicht so gut?«
    »Nein, alles in Ordnung. Tut mir leid. Es gibt keine Tante.«
    »Interessant. Es ist wie bei Agatha Christie.«
    »Nicht wirklich.«
    »Wie auch immer, ich rufe an, weil die Verkehrspolizei von North Yorkshire angerufen hat.« Es stimmte, der Empfang war nicht gut, und Sandys Stimme kämpfte mit dem Äther, aber der

Weitere Kostenlose Bücher