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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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handelte, der schauderhafte Erinnerungen heraufbeschwor, lag die Sache ganz anders.
    Im Krankenhaus hatten sie zu ihm gesagt, dass er sich möglicherweise nie mehr an die Ereignisse kurz vor dem Unglück würde erinnern können, doch dem war nicht so, ihm fiel mit der Zeit immer mehr ein, Stücke einer nicht zusammengenähten Patchworkdecke – die Erkennungsmelodie von High Chaparral als Klingelton eines Handys, ein Paar roter Schuhe, der unerwartete Anblick des Gesichts eines toten Soldaten, als er ihn auf der Erde umdrehte.
    » BLUTBAD «, lautete die Schlagzeile einer Zeitung, die sie ihm im Krankenhaus gezeigt hatten. Es war reines Glück, dass er lebte und andere nicht, ein kurzfristiges Nachlassen der Konzentration der Parzen, das ihn überleben ließ und jemand anderen nicht.
    Die alte Frau mit dem Buch von Catherine Cookson, die Frau in Rot, der schlaffe Anzug, wo waren sie? Jackson stellte unwillkürlich sein Recht in Frage, (mehr oder weniger) auf den Beinen zu sein, wenn fünfzehn andere Menschen irgendwo in einem Kühlfach lagerten. Was war mit seinem Alter Ego? Lag der echte Andrew Decker noch in einem Krankenhaus – war er unverletzt davongegangen oder hatte seine Reise tödlich geendet? Der Name kam Jacksons angeschlagenem Gehirn immer noch vage bekannt vor, aber er hatte keine Ahnung, warum.
    Er vermutete, dass er unter dem litt, was man Schuldgefühle der Überlebenden nannte. Er hatte viele Dinge überlebt und sich nicht schuldig gefühlt oder zumindest nicht auf eine Weise, die ihm bewusst gewesen wäre. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er allerdings das Gefühl gehabt, in den Nachwehen einer Katastrophe zu leben, im endlosen Postscriptum der Zeit, das sein Leben nach der Ermordung seiner Schwester und dem Selbstmord seines Bruders war. Er hatte diese schrecklichen Gefühle in sich hineingesogen, sie gehegt und gepflegt, bis sie den harten schwarzen Kohlekern im Innersten seiner Seele bildeten, aber dieses Unglück war extern, die Trümmer waren greifbar, sie befanden sich außerhalb des Raums, in dem er schlief.
    »Wir sind alle Überlebende, Mr. B.«, sagte Reggie.
     
    Im Bahnhof hatte Jackson zum ersten Mal im Leben eine Panikattacke. Er taumelte zu einer eisernen Bank in der Halle, setzte sich schwerfällig und hielt den Kopf zwischen die Knie. Die Leute machten ihm Platz. Vermutlich sah er aus wie ein verprügelter Trinker. Er fühlte sich, als hätte er einen Herzinfarkt. Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt.
    »Nee«, sagte Reggie, griff nach seinem Handgelenk und nahm seinen Puls. »Sie haben nur panische Angst. Atmen Sie«, riet sie ihm. »Das hilft immer.«
    Schließlich hörten die schwarzen Punkte vor seinen Augen auf zu tanzen, und sein Herz schlug nicht mehr wie ein Presslufthammer. Er trank Wasser aus der Flasche, die Reggie an einem Kaffeestand gekauft hatte, und merkte, wie sein Zustand allmählich wieder zu normal oder was in der Nach-Zugunglückswelt als normal galt, zurückkehrte.
    »Eins muss ich klarstellen«, sagte er zu Reggie. »Du hast mir jetzt nicht schon wieder das Leben gerettet. Verstanden?«
    »Total.«
    »Posttraumatischer Stress oder so«, murmelte er.
    »Nichts, wofür man sich schämen müsste«, sagte Reggie. »Es ist wie« (sie machte eine überschwengliche Geste) »eine Tapferkeitsmedaille. Sie haben doch den Soldaten aus dem Zug geholt, oder? Schade, dass er tot war.«
    »Danke.«
    »Sie sind ein Held.«
    »Nein, bin ich nicht«, sagte Jackson. Ich war früher Polizist, dachte er. Ich war früher ein Mann. Jetzt kann ich nicht mal mehr in einen Zug steigen.
    »Egal«, sagte Reggie, »die Züge werden alle umgeleitet, wir müssten mehrmals umsteigen. Mit dem Auto wäre es viel einfacher.«
     
    »Nichts?«, terrorisierte ihn Joy weiter. »Keinen Pass? Keinen Bankauszug? Keine Gasrechnung? Nichts?«
    »Nichts«, bestätigte Jackson. »Ich habe meine Brieftasche verloren. Bei dem Zugunglück von Musselburgh.«
    »Wir machen keine Ausnahmen von der Regel.«
    Dass er keinen Ausweis hatte, war für Joy weniger ein Problem, als dass er keine Kreditkarte hatte. »Bar?«, sagte sie ungläubig beim Anblick des Geldes. »Wir brauchen eine Kreditkarte, Mr. Decker. Und wenn Ihre Brieftasche gestohlen wurde, woher haben Sie dann das Geld?« Gute Frage, dachte Jackson.
    Jackson fletschte die Zähne in dem Bemühen, freundlich zu sein, und sagte: »Bitte, ich bin nur ein Mann, der nach Hause will.«
    »Kreditkarte und Ausweis. Das sind die Regeln.« No

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