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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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paseran.
    »Dads Mum ist gestorben«, sagte Reggie und steckte die kleine Hand überraschend in Jacksons. »Wir müssen nach Hause. Bitte.«
     
    »Puh«, sagte Reggie, als sie zum Espace gingen. Jackson hielt die graue Waffel des elektronischen Schlüssels in Richtung des Wagens, und er gab ein einladendes Piepsen von sich.
    Erbarmungswürdiges Betteln brachte sie bei Joy nicht weiter. Die Tatsache, dass ihr just an diesem Morgen gekündigt worden war (»Ich bin überflüssig«, sagte sie spöttisch, »wie jede andere Frau meines Alters«), war wesentlich wirkungsvoller. »Sie können von mir aus mit dem verdammten Wagen in den Sonnenuntergang fahren«, sagte sie, aber erst nachdem sie sich die Befriedigung verschafft und sich mit ihnen bis aufs Blut gestritten hatte.
    Er ließ den Motor mit der grauen Plastikwaffel an und erklärte Reggie, wie sie den Escape vom »Park«- in den »Fahr«-Modus brachte. Widerwillig gestand er sich ein, dass er sie brauchte, er war nicht sicher, ob er die Fahrt allein schaffen würde, und nicht nur weil sie wusste, wie man seinen Arm wieder in die Schlinge steckte, und ihm beim Fahren helfen musste.
    Jackson setzte sich auf den Fahrersitz. Es fühlte sich gut an, es fühlte sich wie ein Zuhause an. Mit nur einer Hand zu fahren kostete ihn nicht so viele Nerven, wie mit Reggie Chase auf dem Beifahrersitz zu fahren. Halb Kind, halb nicht zu stoppende Naturgewalt.
    »Okay, los geht’s«, sagte Jackson. Der Hund schlief bereits auf dem Rücksitz.
     
    In einem Triumph von Idiotie über Widrigkeit schafften sie es bis zum Scotch Corner, hielten nur zweimal an Tankstellen, damit Jackson »ein paar Minuten« ausruhen konnte. Sein Körper sehnte sich nach Ruhe, er wollte flach in einem dunklen Raum liegen, nicht einhändig auf der A1 fahren. Er hatte die starken Schmerztabletten genommen, die der australische Mike ihm gegeben hatte. Er war überzeugt, dass auf dem Beipackzettel davor gewarnt wurde, sich unter ihrem Einfluss ans Steuer zu setzen, aber von irgendwo hatte er sein altes Armee-Selbst hervorgekramt, das ihn über die Grenzen der Vernunft hinaustrieb. Wenn es hart auf hart kommt, nehmen die Harten Drogen.
    Reggie machte ein Fest aus der Fahrt. Sie hatte wie seine Tochter, seine richtige Tochter, die beunruhigende Angewohnheit, jedes Straßenschild vergnügt laut vorzulesen (manchmal auch vorzusingen) – verborgene Senke, scharfe Kurve, Berwick-on-Tweed 38 km, Straßenbauarbeiten 1 km. Abgesehen von Marlee war noch nie jemand mit ihm gefahren, der so viel Spaß an der A1 hatte.
    »Ich komme nicht oft weg«, sagte sie fröhlich.
    Sie hatte eine Adresse von der zweifelhaften Tante. Sie stand in dem Filofax, der Joanna Hunter gehörte. Reggie hatte einen riesigen Rucksack dabei, Joanna Hunters große Handtasche, die sie nahezu obsessiv beschäftigte (Warum sollte sie sie zurücklassen? Warum?), eine Plastiktasche mit Hundefutter, sowie natürlich den Hund selbst. Sie reiste nicht mit leichtem Gepäck. Jackson hatte nicht mehr als die Kleidung, die er auf dem Leib trug. Es war eine Art Freiheit, nahm er an.
    »Hier, hier, wir müssen rechts abbiegen«, sagte Reggie nachdrücklich, als sie sich der großen Kreuzung am Scotch Corner näherten.
     
    Morgen würde er seine Frau wiedersehen. Seine Frau, strahlend und brandneu. Und er hätte jede Menge Sex mit seiner neuen Frau, doch um ehrlich zu sein, war Sex das Letzte, wozu er sich im Moment in der Lage fühlte. Ein warmes Bett und ein großer Whisky klangen wesentlich attraktiver. Er würde nach Hause fahren und sein Leben weiterleben. Seine Reise war unterbrochen worden (aber nicht für immer), er war verletzt worden (aber nicht tödlich), dennoch nagte ein kleiner Zweifel an ihm, dass er nicht wieder so zusammengesetzt worden war, wie er zuvor gewesen war.
    »Am Scotch Corner rechts«, sagte Reggie, »und dann sind wir in Wensleydale. Von dort kommt der Käse.«
    Er war am Mittwoch hier gewesen (in der Welt vor dem Zugunglück, in einem anderen Land). In Hawes hatte er die OS -Karte gekauft, eine Zeitung, ein Brötchen mit Käse und Pickles. Sie kämen nahe an dem Haus vorbei, in dem Nathan, sein Sohn, lebte. Sie könnten ihn besuchen, an der Dorfwiese anhalten, vor Julias Haus parken. Er war zurück, wo er gestartet war. Wieder einmal.
     
    Am Scotch Corner war er gehorsam Reggies etwas hysterischen Anweisungen gefolgt und rechts abgebogen, als etwas verrutschte, der Wagen, er, er war nicht sicher. Vielleicht hatte er mit offenen

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