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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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er, stand auf und salutierte seinem Widersacher.
    »Du hast gewonnen«, sagte er zu dem Schaf, stieg in den Wagen, schaltete den CD -Spieler ein und legte Enya auf. Als er wieder erwachte, waren weit und breit keine Schafe mehr zu sehen.
     
    Er war jetzt definitiv nicht mehr auf der Karte. Der Himmel war bleiern, drohte mit Schnee. Höher und höher, bis ganz hinauf zu einem geheimnisvollen Gipfel. Der himmlischen Stadt. Auf der Straße befanden sich Gatter, und es war mühsam, jedes Mal auszusteigen, sie zu öffnen und wieder zu schließen. Vermutlich war es eine Möglichkeit, die Schafe einzupferchen. Gab es noch Schäfer? Jacksons Vorstellung von einem Schäfer war ein Mann mit verwildertem Bart, in einer selbstgemachten Schaffelljacke, der in einer sternenfunkelnden Nacht auf einem grasbewachsenen Hügel saß, einen Stock aus Widderhorn in der Hand, und nach den Wölfen Ausschau hielt, die sich auf dem Bauch an seine Herde anpirschten. Jackson war überrascht, wie poetisch detailliert und vollkommen falsch sein Bild war. In Wirklichkeit waren es Traktoren, Hormone und chemische Bäder. Und die Wölfe waren seit langem verschwunden oder zumindest die mit dem echten Wolfspelz. Jackson war ein Schäfer, er konnte nicht ruhen, bis die Herde gezählt und in Sicherheit zusammengetrieben war. Es war seine Berufung und sein Fluch. Beschützen und dienen.
    Die Schneestangen am Straßenrand waren drei Meter hoch. Er blickte argwöhnisch gen Himmel, er wollte hier nicht in einer Schneewehe steckenbleiben, niemand würde ihn finden. Er müsste sich bis zum Frühling eingraben, ein paar Schafe scheren, um Decken daraus zu machen. Niemand wusste, dass er hier war, er hatte niemandem gesagt, dass er nicht mehr in London war. Wenn er nicht mehr zurückfände, wenn ihm etwas zustieße, gäbe es niemanden, der wüsste, wo er suchen sollte. Wenn er jemanden, den er liebte, vermisste, würde er ihn auf der ganzen Welt suchen, aber er war sich nicht wirklich sicher, ob es jemanden gab, der das Gleiche für ihn tun würde. (Ich liebe dich, sagte sie, aber er wusste nicht, wie dauerhaft dieses Gefühl war.)
    Er kam an einem Zaunpfahl vorbei, auf dem wie eine Bekrönung ein Raubvogel saß, ein Habicht oder Falke. Jackson war nicht gut im Bestimmen von Vögeln. Aber er kannte Bussarde, über ihm flog ein Paar, kreiste müßig in einer Warteschleife über der Moorlandschaft, wie Silhouetten aus schwarzem Papier. Wenn du von hinnen geschieden bist, alle und jede Nacht, kommst du nach Whinnymuir zuletzt, und Christus empfang deine Seele. Himmel, woher war das jetzt aufgetaucht? Schule, das war es. Auswendiglernen, noch in Mode, als Jackson ein Junge war. »The Lyke Wake Dirge«. Sein erstes Jahr in der Mittelschule, bevor sein Leben aus den Gleisen sprang. Er sah plötzlich vor sich, wie er in ihrem kleinen Haus vor dem Kohleofen stand, am Abend das Gedicht vortrug, weil sie am nächsten Tag eine Prüfung schrieben. Seine Schwester Niamh hörte zu und korrigierte ihn, als würde sie ihn abfragen. Er konnte die Kohlen riechen, die Hitze an seinen nackten Beinen spüren, die in der wollenen kurzen Hose seiner Schuluniform steckten. Aus der Küche drang der Geruch nach dem Bauernessen, das ihre Mutter zum Abendessen kochte. Niamh schlug ihm mit dem Lineal auf die Beine, wenn er nicht weiterwusste. Im Nachhinein wunderte er sich über die viele beiläufige Brutalität in seiner Familie (seine Schwester war fast so schlimm wie sein Bruder und sein Vater), die Knüffe und Schläge, das Ziehen an Haaren und Ohren, Brennnesselgriff – ein ganzes Arsenal der Gewalttätigkeit. Besser konnten sie nicht ausdrücken, dass sie sich liebten. Vielleicht lag es an der schlechten Mischung schottischer und irischer Gene, die ihre Eltern mit in die Ehe gebracht hatten. Vielleicht lag es am Geldmangel oder an dem harten Leben in einer Bergarbeitergemeinde. Oder vielleicht gefiel es ihnen einfach. Jackson hatte nie eine Frau oder ein Kind geschlagen, er beschränkte sich voll und ganz darauf, sein eigenes Geschlecht zu verprügeln.
    Wenn Schuhe und Strümpfe du nie jemand gabst, alle und jede Nacht, sollen Dornen dich stechen bis ins Gebein, und Christus empfang deine Seele.
    Auf seine Schule war Verlass gewesen, wenn es darum ging, dass die Schüler im ersten Jahr eine Totenklage lernen mussten. Was sagte das über den Yorkshire-Charakter? Und nicht nur eine Totenklage, sondern ein Lied über die Reise einer Leiche. Eine Prüfung. Ernte, was du gesät hast.

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