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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Gib in diesem Leben deine Schuhe weg, und du wirst Schuhe haben für deinen Weg durch das dornige Unterholz im nächsten. Diese eine Nacht, diese eine Nacht, alle und jede Nacht, Feuer und Sturm und Kerzenlicht, und Christus empfang deine Seele. Jackson schauderte und stellte die Heizung höher.
     
    Wie es schien, war er doch nicht allein auf der Straße nach Nirgendwo. Vor ihm war jemand, zu Fuß, kam auf ihn zu. Es war so unerwartet, dass er sich einen Augenblick lang fragte, ob es eine Fata Morgana war, heraufbeschworen durch zu langes Starren auf die Straße, aber nein, es war kein Phantom, es war eindeutig ein menschliches Wesen, eine Frau noch dazu. Er verlangsamte das Tempo, während er näher kam. Keine Spaziergängerin oder Touristin, sie trug eine lange Strickjacke, Bluse und Rock, Mokassins. Ihr einziges Zugeständnis an das Wetter war ein handgestrickter Schal, den sie locker um den Hals geschlungen hatte. In den Vierzigern, schätzte er, braunes bis graues Haar, zu einem Dutt gebunden, sie hatte etwas von einer Bibliothekarin. Wurden Bibliothekarinnen ihrem Klischee gerecht? Oder hatten sie hemmungslosen Sex hinter jedem Bücherstapel und Regal? Jackson hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in eine Bibliothek gesetzt.
    Die zu Fuß gehende Frau hatte keine besonderen Merkmale. Und auch keinen Hund. Ihre Hände steckten in den Taschen ihrer Strickjacke. Sie ging nicht, sie schlenderte. Von Nirgendwo nach Nirgendwo. Es stimmte einfach nicht. Er hielt an und ließ die Fensterscheibe herunter.
    Als sich die Frau dem Wagen näherte, lächelte sie und nickte. »Kann ich Sie mitnehmen?«, fragte er. (»Lass dich nie von einem Fremden mitnehmen, nicht einmal, wenn du dich mitten im Nirgendwo verlaufen hast, auch nicht, wenn sie behaupten, dass sie deine Mutter kennen, ein Hündchen auf dem Rücksitz haben, bei der Polizei sind.«)
    Die Frau lachte freundlich – keine Angst, kein Misstrauen – und schüttelte den Kopf. »Sie fahren in die falsche Richtung«, sagte sie. Örtlicher Dialekt. Sie deutete mit dem Arm in die Richtung, aus der er kam, und sagte: »Ich habe es nicht weit.«
    »Sieht nach Schnee aus«, sagte Jackson. Warum trug sie keinen Mantel, waren sie hier oben zäher? Sie betrachtete einen Moment lang den Himmel und sagte dann, »Oh, nein, das glaube ich nicht. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, bevor sie ihm kurz zuwinkte und ihr nicht der Jahreszeit entsprechendes Schlendern wieder aufnahm. Er konnte sie nicht verfolgen, weder zu Fuß noch mit dem Wagen, sie hätte ihn für einen Verrückten gehalten. Sie musste zu einem Bauernhof unterwegs sein, den er übersehen hatte. Vielleicht befand er sich in einer Mulde oder jenseits des Kamms eines Hügels. Oder war unsichtbar. »Wie wir in diesem Teil der Welt sagen«, wandte er sich an den Discovery, »nichts ist so wunderlich wie der Mensch.«
    Es dämmerte, und er fragte sich, wie dunkel es wäre, wenn die Wintersonne den Kampf endgültig aufgäbe. Landdunkel vermutlich. Er schaltete die Scheinwerfer ein.
    Im Rückspiegel sah er zu, wie die Frau immer kleiner wurde, bis sie in der Dämmerung verschwunden war. Sie blickte nicht zurück. An ihrer Stelle hätte er auf jeden Fall zurückgeblickt.
     
    Er war ein Mann auf der Straße, ein Mann, der nach Hause wollte. Das Ziel war das Wichtige, nicht die Reise. Alle wollten nach Hause. Alle, überall, immer.
    Es war jetzt dunkel. Er fuhr weiter, ein armer fremder Wandersmann. War er unterwegs von dieser Welt in die nächste? Sie fahren in die falsche Richtung, hatte sie gesagt. Sie hatte gemeint, dass sie in die andere Richtung musste. Oder? Oder war in ihren Worten eine Botschaft versteckt? Ein Hinweis? Fuhr er wirklich in die falsche Richtung, in die falsche Richtung wohin? Die Straße musste irgendwo enden, und wenn sie dort endete, wo sie begonnen hatte. »Tu das nicht«, sagte er laut zu sich selbst. »Lass dich nicht auf diesen existenziellen Mist ein.« Ja, aber ich wandle durch das Schattental des Todes.
    Gerade als er entschied, dass sie sich für immer in den unbekannten Dimensionen verirrt hatten, fuhren sie über eine Anhöhe, und er sah die glitzernden Lichter der Autos auf der A1 vor sich, dem Lost Highway, einer breiten, grauen Arterie der Logik, auf dem Autos von einem bekannten Ort zu einem anderen rasten. Halleluja.

Sie würde die Blumen selbst kaufen
    S ie würde in die Stadt fahren zu Maxwell’s in der Castle

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