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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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gewesen, dass sie alles so früh gemacht hatte, vermutete Reggie.
    Sie war überhaupt nicht fotogen, was noch schlimmer wurde durch die albernen Gesichter, die sie zog, kaum wurde eine Kamera auf sie gehalten. Einer ihrer liebsten Sprüche war: »Es ist eine komische alte Welt.« Sie sagte es liebevoll, als wäre die Welt ein ungezogenes Kind. Sie las gern Danielle Steel, und ihre Lieblingsblumen waren Osterglocken, und sie machte eine wirklich gute Lammpastete. Das alles war wahr. Nur dass sie noch lebte, war erfunden.
     
    Während Reggie die Spüle wischte, fiel ihr Blick auf etwas, was sich am anderen Ende der Wiese bewegte. Die Sonne hatte sich heute kaum sehen lassen, und es war schwer, aus dieser Entfernung etwas anderes als verschwommene Flecken wahrzunehmen. Kein Pferd, es war kein Tag für die Pferde, sie lebten ihr geheimnisvolles Leben woanders. Wer oder was immer es war, schien die Hecke entlangzuhoppeln, ein schwarzer Fleck. Reggie schaute zu Sadie, um zu überprüfen, ob ihre Hundesinne sie aufmerken ließen, aber sie saß stoisch neben dem Baby auf dem Boden, das versuchte, sich ihren Schwanz in den Mund zu stopfen.
    »Ich glaube nicht, Mister«, sagte Reggie zum Baby, entwand ihm sanft eine Faustvoll Fell und hob es hoch. Sie trug das Baby zum Fenster, aber jetzt war dort draußen nichts mehr zu sehen. Das Baby zerrte an einer Haarsträhne, es war ein schrecklicher Haargrapscher. »Ein atavistischer Instinkt, denke ich«, sagte Dr. Hunter. »Aus den Tagen, als ich mich durch die Bäume geschwungen und er sich an mich geklammert hätte.« Die Vorstellung von Dr. Hunter, die immer so gepflegt wirkte in dem kleinen schwarzen Kostüm, das sie zur Arbeit trug, als primitive Baumbewohnerin war komisch. Reggie schlug »atavistisch« nach. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, das Wort zu benutzen. Sie arbeitete sich durch die »A«, und es passte gut zu ihrem Bestreben, ihr Vokabular zu erweitern.
     
    In letzter Zeit blieb Reggie immer länger im Haus der Hunters, wohingegen Mr. Hunter immer häufiger abwesend war. »Er plant etwas, ein neues Unternehmen«, sagte Dr. Hunter gut gelaunt. Dr. Hunter schien sich zu freuen, dass Reggie so lange blieb. Sie schaute plötzlich aus dem Fenster und sagte: »Himmel, Reggie, es ist dunkel, du musst nach Hause«, doch dann fügte sie hinzu: »Ich hasse dieses schreckliche Wetter. Sollen wir noch eine Tasse Tee trinken?« Oder: »Bleib zum Abendessen, Reggie, ich fahre dich später nach Hause.« Reggie hoffte, dass Dr. Hunter eines Tages sagen würde, »Warum fährst du überhaupt nach Hause, Reggie? Warum ziehst du nicht zu uns?«, und dann wären sie eine richtige Familie – Dr. Hunter, Reggie, das Baby und der Hund. (»Neil« spielte in Reggies Tagtraum vom Familienleben keine große Rolle.)
    An einem dieser Abende, als Dr. Hunter und Reggie das Baby badeten, wandte sich Dr. Hunter aus heiterem Himmel an Reggie und sagte, »Weißt du, es gibt keine Regeln«, und Reggie sagte, »Wirklich?«, weil ihr eine Menge Regeln einfielen, zum Beispiel die Trauben zu halbieren, im Schwimmbad eine Bademütze zu tragen, ganz zu schweigen davon, den Müll zu trennen. Im Gegensatz zu Ms MacDonald war Dr. Hunter ganz versessen auf Recycling. Sie sagte: »Nein, nicht diese Dinge. Ich meine, wie wir unser Leben leben. Es gibt keine Vorlage, kein Muster, dem wir folgen sollten. Niemand schaut uns zu, um zu sehen, ob wir es richtig machen, es gibt kein Richtig, wir erfinden es unterwegs.«
    Reggie war sich nicht ganz sicher, ob sie begriff, worüber Dr. Hunter sprach. Das Baby lenkte sie ab, quietschte und spritzte wie ein wahnsinniges Seeungeheuer.
    »Du darfst nicht vergessen, dass das einzig Wichtige die Liebe ist, Reggie. Hast du mich verstanden?«
    Das klang okay für Reggie, ein bisschen nach Richard Curtis, aber okay.
    »Laut und deutlich, Dr. H.«, sagte sie und nahm ein warmes Handtuch vom Heizkörper. Dr. Hunter hob das Baby aus dem Wasser, es war glitschiger als ein Fisch, und Reggie wickelte es ins Handtuch.
    »Wenn das Licht erloschen ist, leuchtet uns die Liebe«, sagte Dr. Hunter. »Ist das nicht wunderschön? Elizabeth Barrett Browning hat es für ihren Hund geschrieben.«
    »Flush«, sagte Reggie. »Virginia Woolf hat ein Buch über ihn geschrieben. Ich habe um das Thema herumgelesen.«
    »Wenn alles andere gegangen ist, bleibt die Liebe«, sagte Dr. Hunter.
    »Total«, sagte Reggie. Aber was nutzte es? Gar nichts.

Ad augusta per angusta
    D as war

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