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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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also die landschaftlich schöne Strecke. Er fuhr »the long way around«. Jackson lüpfte einen metaphorischen Hut in Richtung Dixie Chicks.
    Aus nur ihm selbst bekannten Gründen hatte das GPS fünf Meilen hinter dem Dorf den Betrieb eingestellt. Irgendwo mussten sie offenbar falsch abgebogen sein, weil Jackson sich auf einer einspurigen Landstraße wiederfand, die sich gemütlich durch ein verlassenes Tal schlängelte. Sein Handy hatte kein Netz, das Radio gab seit geraumer Zeit nichts außer Knistern und Zischen von sich. Im CD -Spieler steckte eine CD , die von einer früheren Vermietung übrig geblieben sein musste, und Jackson fragte sich, unter welchen Umständen er sich so verzweifelt nach einer anderen Stimme sehnen würde, dass er sogar Enya hören würde.
    Er hätte seinen iPod mitnehmen sollen, dann hätte er Lieder von Herzschmerz und Erlösung und prolliger Rechtschaffenheit hören können. Und es war offensichtlich eine wirklich schlechte Idee gewesen, die OS -Karte zurückzulassen, obschon er nicht überzeugt war, dass die Straßen hier irgendeiner Landkarte entsprachen. Hätte ihm nicht vor einer Meile ein Schild versichert, dass er in die richtige Richtung fuhr, wäre er schon umgekehrt. (Aber sollte er so viel Vertrauen in Straßenschilder setzen?)
    Öde in ihrer Schönheit begann die Landschaft Jacksons schwermütigen Zug hervorzulocken, den er lieber in Zaum gehalten hätte. Hallo, Finsternis, alte Freundin. Das Leben war leichter, wenn man ein phantasieloser Pragmatiker war, ein glücklicher Idiot. »Also, das mit dem Idioten hast du gut hingekriegt«, hörte er seine Exfrau Josie sagen.
    Die Straße folgte den Konturen des Landes, und abgesehen von gelegentlichem Gefälle fuhren sie immer höher. Wäre Jackson zu Fuß gegangen (Gott behüte), hätte er im Singular von sich gesprochen, in einem Auto wurde er zu einem Pronomen im Plural. Sie, wir, uns. Der Wagen und ich, die bio-mechanische Fusion von Mensch und Maschine. Pilger auf Gottes Autobahn.
    Sie waren allein. Kein anderer Wagen in Sicht. Keine Traktoren oder Land Rover, keine anderen Herumtreiber auf der Hochebene, niemand. Keine Bauernhöfe oder Schafställe, nur Gras und karger Kalkstein und ein toter Dezemberhimmel. Er war auf der Straße nach Nirgendwo.
    Es waren jedoch noch viele widerstandsfähige Schafe unterwegs, gleichgültig gegenüber der Gefahr, die ein riesiger Discovery darstellte. Sie mussten hier draußen auf diesen Sturmhöhen spät lammen. Jackson fragte sich, ob sie bereits die Lämmer des nächsten Jahres trugen. Er hatte nie zuvor über die Dauer der Schafsträchtigkeit nachgedacht, es war erstaunlich, wozu einen eine verlassene Straße trieb. Seine Tochter hatte vor kurzem ihre Konversion zur Vegetarierin erklärt. In einem Wortassoziationstest würde er auf das Wort »Lamm« automatisch »Minzsoße« antworten, Marlees Antwort wäre »unschuldig«. Zur Schlachtbank führen von. Sie war als Atheistin aufgewachsen, aber sie sprach die Sprache der Märtyrer. Vielleicht war der Katholizismus genetisch verankert, im Blut.
    »Vegetarierin zu werden scheint heutzutage bei Mädchen zum Erwachsenwerden zu gehören«, sagte Josie während seines letzten Besuchs in Cambridge gegen Ende des Sommers. »Alle ihre Freundinnen essen kein Fleisch mehr.« Keine Vater-Tochter-Bande mehr über einem Burger.
    »Ich weiß, ich weiß, Fleisch ist Mord«, sagte er, als sie sich an einen Tisch in einem Café setzten, das Marlee ausgesucht hatte, es hieß »Keime« oder »Wurzeln«. (»Unkraut«, sagte er zu ihrem Verdruss.) Ihn gelüstete nach einem Rindfleischsandwich mit Senf, aber er begnügte sich mit einem zähen braunen Brötchen mit anämischer Füllung – Eier wie er annahm –, die sich jedoch als – Schrecken aller Schrecken – »gebratener Tofu« erwies.
    »Mhm«, sagte er, und Marlee sagte: »Sei nicht so zynisch, Daddy. Das passt viel zu gut zu dir.«
    Wann hatte seine Tochter angefangen, wie eine Frau zu reden? Vor einem Jahr noch war sie wie eine Dreijährige am Fluss den Pfad nach Grantchester entlanggehüpft (wo sie, wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, im Orchard Tea Room einen Salat mit Schinken gegessen und keinerlei Schuldgefühle wegen des Verzehrs von Babe gehabt hatte). Jetzt war das Mädchen offenbar so weit vorausgelaufen, dass er sie nicht mehr sah. Man kehrte ihnen kurz den Rücken, und sie waren weg.
    Wenn man Kinder hatte, zählte man die eigenen Jahre mit ihren. Nicht »Ich bin

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