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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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neunundvierzig«, sondern »Ich habe ein zwölfjähriges Kind«. Josie hatte jetzt noch ein Kind, ein weiteres Mädchen, zwei Jahre alt genau wie Nathan. Zwei Kinder, verbunden durch einen Strang DNS , den sie mit ihrer Halbschwester Marlee gemeinsam hatten. Nur weil ihm Nathan nicht ähnlich sah, hieß das nicht, dass er nicht sein Sohn war. Schließlich sah ihm Marlee auch nicht ähnlich. Julia behauptete, dass Nathan nicht von ihm war, aber wann hatte irgendjemand irgendetwas geglaubt, was seine Exfreundin behauptete? Julia war eine geborene Lügnerin. Außerdem war sie Schauspielerin. Und als sie ihm ernst in die Augen sah und sagte: »Wirklich, Jackson, das Baby ist nicht von dir, ich sage die Wahrheit, warum sollte ich lügen?«, sagte sein Instinkt: »Warum jetzt eine lebenslange Gewohnheit ablegen?« Statt zu streiten (Im Allgemeinen streite ich nur mit Menschen, die ich mag, hatte sie einmal zu ihm gesagt), hatte sie ihn nur mitleidig angeschaut.
    Er wollte einen Sohn. Er wollte einen Sohn, damit er ihm alles beibringen konnte, was er wusste, damit er ihm beibringen konnte zu lernen, was er nicht wusste. Seiner Tochter konnte er nichts beibringen, sie wusste bereits mehr als er. Und er wollte einen Sohn, weil er ein Mann war. So einfach war das. Er erinnerte sich plötzlich an das Aufwallen von Gefühl, das er empfunden hatte, als er Nathans Kopf berührte. Das war es, was einen starken Mann in die Knie zwang.
    Und außerdem, hatte er zu Josie gesagt, seit wann war eine Zwölfjährige ein Teenager? »Auf die Zehn kommt es an – dreizehn, vierzehn und so weiter. Sie ist erst zwölf.«
    »Zwei Stellen zählen«, sagte Josie beiläufig. »Sie fangen heutzutage früher an.«
    »Womit?«
    Jackson war ein Teenager gewesen, ohne es zu merken. Mit zwölf war er ein Junge gewesen, und mit sechzehn war er zur Armee gegangen und ein Mann geworden. Dazwischen war er im Schattental des Todes gewandelt, ohne getröstet zu werden.
    Er hoffte, seine Tochter fände einen sonnigen Weg durch diese Jahre. Er hatte eine geknickte Postkarte von ihr in der Jackentasche, von ihrer Schulfahrt nach Brügge. Es war eine pittoreske Ansicht eines Kanals und alter roter Backsteinhäuser. Jackson hatte nie das Bedürfnis verspürt, nach Belgien zu fahren. Er hatte die Karte aus seiner alten Lederjacke genommen und sie in die North-Face-Jacke – seine Verkleidung – gesteckt, wenn auch aus keinem erkennbaren Motiv, außer dass eine Botschaft seiner Tochter, so banal und pflichtbewusst sie auch war (»Lieber Dad, Brügge ist sehr interessant, es gibt eine Menge hübscher Häuser. Es regnet. Habe ganz viel Pommes und Schokolade gegessen. Vermisse Dich! Liebe Dich! Xxx, Marlee«), etwas zu sein schien, was man nicht einfach wegwarf. Vermisste sie ihn wirklich? Er vermutete, dass ihr Leben zu erfüllt war, um seine Abwesenheit zu bemerken.
     
    Ein zotteliges Schaf, ein in die Jahre gekommener Hammel, stand mitten auf der Straße wie ein Revolverheld, der auf zwölf Uhr mittags wartet. Jackson hielt an und blieb eine Weile im Wagen sitzen. Das Schaf rührte sich nicht. Er drückte auf die Hupe, aber es zuckte nicht einmal mit den Ohren, kaute lakonisch weiter wie ein alter Tabakkauer. Er fragte sich, ob es taub war. Er stieg aus und schaute es drohend an.
    »Ziehst du jetzt den Revolver oder pfeifst du ›Dixie‹?«, sagte er zu ihm. Es sah ihn kurz interessiert an und nahm dann erneut das endlose Kauen auf.
    Er versuchte, es mit Körperkraft zu bewegen. Es leistete Widerstand, lehnte sein dummes Gewicht gegen ihn. Sollte es nicht Angst vor ihm haben? Er hätte Angst vor sich, wenn er ein Schaf wäre.
    Als Nächstes packte er es an den Hinterbeinen, suchte nach dem Drehmoment, aber es war unmöglich, es hätte genauso gut in die Erde betoniert sein können. Der Schwitzkasten brachte ihn auch nicht weiter. Er war froh, dass niemand in der Nähe war, der diesen absurden Ringkampf beobachtete. Er dachte über die Ethik eines Tiefschlags nach. Dann trat er ein paar Schritte zurück, um seine Taktik zu überdenken.
    Schließlich versuchte er, ihm die Vorderbeine wegzuziehen, verlor dabei selbst das Gleichgewicht und landete mit dem Rücken auf der Straße. Über den bleichen Winterhimmel trieb eine noch bleichere Wolke, so weiß und weich wie ein Lämmchen. Jackson verfolgte im Liegen, wie sie von einer Seite des Tals zur anderen zog. Als ihm die Kälte nicht nur in die Knochen gekrochen war, sondern auch das Mark darin tiefgefror, seufzte

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