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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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dachte an das Schaf vom Nachmittag. Der betrunkene Mann war gefügiger. Er starrte Jackson aus trüben Augen an, verwirrt von dem »Sir«, unsicher, ob er angegriffen wurde oder nicht, wahrscheinlich hatte ihn außer der Polizei nie zuvor jemand so höflich angesprochen. Er wollte etwas sagen, lallend und inkohärent, als der Waggon plötzlich einen Satz machte, der Mann taumelte und der Länge nach an Jacksons vergeblichen Versuchen, ihn festzuhalten, vorbeistürzte.
    Die Fahrgäste im Abteil zeigten sich in gewissem Maß beunruhigt von dem unerwarteten Holpern des Zugs, bald jedoch machte sich Erleichterung breit. »Was war das?«, hörte Jackson jemanden sagen, und jemand anders lachte und sagte: »Wahrscheinlich liegt das falsche Laub auf dem Gleis.« Es war alles sehr britisch. Der Anzug war am nervösesten. »Alles in Ordnung«, sagte Jackson und dachte sofort: Führ das Schicksal nicht in Versuchung.
    Julia glaubte an die Schicksalsgöttinnen (seien wir ehrlich, Julia glaubte an alles und jedes). Sie glaubte, dass sie einen »im Auge hatten«, und wenn nicht, dann hielten sie nach einem Ausschau, deswegen war es am besten, die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen. Sie hatten einmal im Auto gesessen, steckten in einem Stau fest und wollten eine Fähre erwischen, und Jackson sagte, »Ist schon in Ordnung, ich bin sicher, dass wir es schaffen«, und Julia hatte sich auf dem Beifahrersitz dramatisch geduckt, als würde auf sie geschossen, und gezischt: »Pssst, sie hören uns.«
    »Wer hört uns?« Jackson war verwirrt.
    »Die Parzen.« Jackson schaute in den Rückspiegel, als säßen sie im Wagen hinter ihnen. »Führ sie nicht in Versuchung«, sagte Julia. Und in einem in Turbulenzen geratenen Flugzeug hielt er ihre Hand und sagte, »Das wird nicht lange dauern«, und musste die gleiche alberne Vorstellung über sich ergehen lassen, als säßen die Parzen auf der Tragfläche der 747. »Häng dich nicht zu weit aus dem Fenster«, sagte Julia. Jackson hatte sich unschuldig erkundigt, ob die Parzen identisch waren mit den Furien, und Julia sagte düster: »Schluss damit.«
    Im Nachhinein war es erstaunlich, wie viel er mit Julia gereist war, sie waren immer in Flugzeugen und Zügen oder auf Schiffen. Seit ihrer Trennung war er kaum mehr unterwegs, hin und wieder überquerte er den Kanal, um in sein Haus im Midi zu fahren. Er hatte das Haus jetzt verkauft, das Geld sollte heute auf seinem Konto sein. Er hatte Frankreich gemocht, aber es war nicht sein Zuhause.
    Im Augenblick war Jackson weniger an den Parzen als vielmehr an der Richtung interessiert, in die sie fuhren. Sie fuhren nach Edinburgh? Er war nicht in den Zug nach King’s Cross gestiegen, sondern in den aus King’s Cross. Die schlendernde Frau hatte recht. Er fuhr in die falsche Richtung.

Haus Satis
    A ls Reggie vor dem öden Bungalow in Musselburgh ankam, öffnete Ms MacDonald die Tür und sagte, »Reggie!«, als wäre sie überrascht, sie zu sehen, obschon ihre Verabredung mittwochs unabänderlich war. Von einer Frau, die stolz darauf war, dass nichts sie überraschen konnte, war Ms MacDonald zu einer Frau geworden, die über die schlichtesten Dinge staunte (»Schau nur, ein Vogel!«, »Ist das da ein Flugzeug?«). Ihr linkes Auge war blutrot, als wäre in ihrem Hirn ein roter Stern explodiert. Man konnte sich schon fragen, ob es nicht besser wäre, einfach ins Blaue zu springen und früh auszuchecken.
    In Ms MacDonalds Haus wies nichts darauf hin, dass Weihnachten bevorstand. Reggie fragte sich, ob ihre Religion es nicht zuließ.
    »Das Essen steht auf dem Tisch«, sagte Ms MacDonald. Jeden Mittwochabend aßen sie zusammen, und dann fuhr Ms MacDonald auf die andere Seite von Musselburgh (Gott stehe allen anderen auf der Straße bei) zu ihrem »Heilungs- und Gebetstreffen« (was, seien wir ehrlich, nicht viel nutzte), während Reggie ihre Hausaufgaben machte und auf Banjo aufpasste, Ms MacDonalds kleinen Hund. Wenn Ms MacDonald zurückkam, erfüllt von Gebeten und vom Heiligen Geist, kontrollierte sie Reggies Hausaufgaben bei Tee und Keksen – »ein schlichtes Verdauungskeks« für Ms MacDonald und eine Karamellwaffel von Tunnocks für Reggie.
    Reggie wusste nicht, wie gut Ms MacDonald gekocht hatte, bevor der übellaunige Tumor angefangen hatte, ihr Gehirn anzunagen, aber jetzt war sie eine schreckliche Köchin. Das »Abendessen« bestand normalerweise entweder aus einem schwerverdaulichen Makkaroniauflauf mit Käse oder einer klebrigen

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