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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Fischpastete, danach stand Ms MacDonald unter Mühen vom Tisch auf und sagte: »Nachtisch?«, als wollte sie ihr Käsekuchen mit Schokolade oder Crème brulée anbieten, wenn es doch immer nur der gleiche Magerjoghurt mit Erdbeergeschmack war, und Ms MacDonald sah ihr bei dessen Verzehr mit einer stellvertretenden Aufregung zu, die beunruhigend war. Ms MacDonald aß nicht mehr viel, jetzt, da sie selbst aufgefressen wurde.
    Ms MacDonald war in den Fünfzigern, aber sie war nie jung gewesen. Als sie an der Schule unterrichtet hatte, sah sie aus, als würde sie sich jeden Morgen bügeln, und legte nie auch nur eine Spur irrationalen Verhaltens an den Tag (ganz im Gegenteil), aber jetzt hatte sie sich nicht nur einer verrückten Religion angeschlossen, sondern sie kleidete sich auch, als wäre sie nur noch einen Schritt weit davon entfernt, eine Pennerin zu werden, und ihr Haus war zwei Schritte über die Schmutzgrenze hinaus. Sie bereite sich auf das Ende der Welt vor, sagte sie. Reggie verstand nicht ganz, wie man sich auf so ein Ereignis vorbereiten konnte, und es schien unwahrscheinlich, dass Ms MacDonald es noch erleben würde, außer das Ende käme sehr bald.
     
    Heute gab es überbackene Spaghetti. Ms MacDonald hatte ein Rezept, wonach richtige Spaghetti aus der Tüte wie Spaghetti aus der Dose schmeckten, wozu einiges gehörte.
    Während des Essens quasselte Ms MacDonald über die »Entrückung« und ob diese vor oder nach der »Trübsal« oder »Trüb«, wie sie es aus intimer Kenntnis nannte, eintreten würde, als wären Verfolgung und Leiden und das Ende der Welt auf der gleichen Unannehmlichkeitsebene angesiedelt wie ein Verkehrsstau.
    Die Religion hatte Ms MacDonald ziemlich spät zu einem Sozialleben verholfen, und ihre Kirche (alias »schräger religiöser Kult«) war ganz erpicht auf Essen, zu denen jeder etwas mitbrachte, und eintönige Grillpartys. Reggie war bei einigen dieser qualvollen Veranstaltungen dabei gewesen und hatte vorsichtig von den verbrannten Opfergaben gegessen.
    Ms MacDonald gehörte der Kirche der Kommenden Entrückung an und war, wie sie selbstgefällig mitteilte, »entrückungsreif«. Sie war eine Prätrübsalistin (»Prätrübber«), was hieß, dass sie senkrecht in den Himmel befördert würde, Businessclass, während alle anderen, darunter Reggie, jede Menge Geißelungen und Bedrängnis erleiden müssten (»Siebzig Wochen lang, Reggie«). Also eine Fortsetzung des Alltags. Es gab auch Posttrübsalisten, die bis nach den Geißelungen warten mussten, dann jedoch am Himmel vorbeizogen und sofort ins Königreich des Himmels auf Erden gelangten, »und das ist das Entscheidende«, sagte Ms MacDonald. Zudem gab es Mitteltrübsalisten, die sich, wie die Bezeichnung nahelegte, irgendwo in der Mitte dieses ganzen verwirrenden Prozesses befanden. Ms MacDonald war errettet, und Reggie war es nicht, daran führte kein Weg vorbei. »Ja, leider wirst du zur Hölle fahren, Reggie«, sagte Ms MacDonald und lächelte sie gütig an. Das hatte auch eine tröstliche Seite, denn Ms MacDonald wäre nicht da, um sie mit ihren Vergil-Übersetzungen zu traktieren.
    Wann immer sich eine schreckliche Tragödie ereignete, von großen Katastrophen wie abgestürzten Flugzeugen oder explodierten Bomben bis zu kleineren Sachen wie einem Jungen, der vom Rad fiel und im Fluss ertrank, oder einem plötzlichen Kindstod im Haus am Ende der Straße, Ms MacDonald legte alles unter »Gottes Werk« ab. »Er erledigt Seine unerforschlichen Aufgaben.« Sie nickte weise, während in den Fernsehnachrichten Leute vor Katastrophen flüchteten, als führte Gott ein geheimes Büro für menschliches Elend. Nur Banjo schien ihr Gefühle abzuringen. »Hoffentlich geht er zuerst«, sagte Ms MacDonald. Es würde ein Wettrennen zwischen Ms MacDonald und ihrem knorrigen alten Eigenbrötler von Terrier. Es war erstaunlich, mit wie viel schmalziger Mutterliebe Ms MacDonald Banjo überschüttete, aber auch Hitler hatte seinen Hund geliebt. (»Blondi«, sagte Dr. Hunter. »Er hieß Blondi.«)
    Ms MacDonalds Hund pfiff auf dem letzten Loch – manchmal knickten die Hinterbeine unter ihm weg, und dann saß er auf dem Boden, vollkommen verwundert über seine plötzliche Unbeweglichkeit. Ms MacDonald machte sich Sorgen, dass er allein sterben könnte, während sie mittwochs beim Heilen und Beten war, deswegen blieb Reggie jetzt bei ihm für den Fall, dass er den Löffel abgab. Es war nicht die schlechteste Art, einen Abend zu verbringen.

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