Lebenslügen / Roman
blauen und braunen Eimer. Ms MacDonald recycelte nichts, sie war wahrscheinlich der ungrünste Mensch auf Erden. Es war sinnlos, die Erde zu bewahren, erklärte Ms MacDonald in freundlichem Ton, weil das Jüngste Gericht erst stattfinden konnte, wenn alles auf der Erde zerstört war, jeder Baum, jede Blume, jeder Fluss. Der letzte Adler, die letzte Eule, der letzte Panda, die Schafe auf den Wiesen, das Laub an den Bäumen, der Sonnenaufgang und das Heu und das Stroh. Alles. Und Ms MacDonald freute sich darauf. (»Es ist eine komische alte Welt«, hätte Mum gesagt.)
Reggie würde definitiv ihre eigene Religion gründen, eine Religion, die Dinge bewahrte, nicht zerstörte, in der die Toten wiedergeboren wurden – und nicht nur auf symbolische Weise –, ohne dass alles andere sterben musste. Dann säße ihre Mutter wieder auf dem Sofa und sähe Desperate Housewives und arbeitete sich durch eine Tüte Tortillachips. Kein Gary lümmelte neben ihr und betatschte sie, nur Mum und Reggie. Für immer zusammen.
So lange Zeit waren sie nur zu zweit gewesen, Mum und sie, na ja, auch Billy, aber Billy war nicht jemand, der rumsaß und aß und plauderte und fernsah (was genau er tat, war schwer zu sagen), und dann kam der Mann-der-vor-Gary-kam, der sich laut Mum als »totaler Arsch« herausstellte (ganz zu schweigen davon, dass er verheiratet war), und anschließend kam »der wahre Jakob« in Gestalt von Gary, und Mum sagte »mein Freund dies« und »mein Freund das« und hatte plötzlich Sex, und alle ihre Freundinnen wollten vorbeikommen und darüber reden. Ihre Mutter war stolz und kicherte, »Dreimal in einer Nacht!«, und ihre Freundinnen kreischten vor Aufregung und verschütteten den Wein.
Im Gegensatz zum Mann-der-vor-Gary-kam war Gary nicht böse, er war ein großer Brocken, der, bis er Mum kennenlernte (und auch danach), den ganzen Tag in seinen schmierigen Jeans hinten im Motorradladen mit jeder Menge Gary-Klons herumsaß und über die Harley-Davidson 883L Sportster sprach, die er kaufen würde, sobald er im Lotto gewonnen hätte. Er machte Mum mit billigen Treibhausrosen von der Shell-Tankstelle und Celebrations-Schachteln den Hof, und als Reggie Einwände gegen diese klischeehafte Einstellung zur Liebe vorbrachte, sagte ihre Mutter, »Du wirst von mir keine Klagen hören, Reggie«, und befingerte die dünne Silberkette mit dem herzförmigen Anhänger, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Gary wollte mit ihr für zwei Wochen nach Spanien (»Lloret de Mar – wie toll das klingt, Reggie!«). Reggies Mutter hatte keinen »richtigen erwachsenen« Urlaub mehr gemacht, seit sie 1989 in Fuerteventura gewesen war, er hätte mit ihr also auch zu Butlins in Skegness fahren können und sie wäre beeindruckt gewesen.
Mum war einmal mit Reggie und Billy für eine Woche nach Scarborough gefahren, aber das ging schief, weil Billy eines Abends aus ihrem Bed & Breakfast verschwand und am nächsten Morgen von einem Polizisten zurückgebracht wurde, nachdem er torkelnd und sturzbesoffen auf der Promenade aufgegriffen worden war. Damals war er zwölf.
Nach einer Woche bekam Reggie eine Postkarte, die ihre Mutter nicht lange nach der Ankunft geschrieben haben musste. Es war ein Foto des Hotels, ein weißes Betongebäude, das aussah, als wäre es aus schlecht aufeinandergetürmten Klötzen gebaut, die Zimmer in merkwürdigen Winkeln zueinander. In der viereckigen Mitte befand sich der Swimmingpool, türkis und leer, umgeben von ordentlich aufgereihten weißen Plastikliegen. Auf dem Foto waren keine Menschen, es war wahrscheinlich sehr früh am Morgen aufgenommen, als noch keine nassen Handtücher, Sonnencremes und Tüten mit nicht gegessenen Chips herumlagen.
Auf der Rückseite hatte Mum geschrieben: »Liebe Reggie, Hotel sehr nett und sauber, reichlich Essen, unser Kellner heißt Manuel, wie in dem Dings von John Cleese! Trinken viel Sangria. Wie ungezogen! Haben ein Paar aus Warrington kennengelernt, Sue und Carl, mit denen wir viel lachen. Vermisse Dich sehr. Bis bald, alles Liebe, Mum xxx«. Gary hatte seinen Namen in großen runden Buchstaben unten dazugeschrieben, als wäre er noch nicht ganz überzeugt vom Konzept der Schreibschrift. Sangria stammte vom lateinischen Wort »sanguis«, Blut, ab. Blutroter Wein. In der Schule hatten sie ein Gedicht durchgenommen über einen schottischen König, der blutroten Wein trank, aber an mehr erinnerte sie sich nicht. Sie fragte sich, ob sie irgendwann alles, was sie
Weitere Kostenlose Bücher