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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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was passiert ist«, sagte er. »Wir glauben, dass Mrs. MacDonald von der Straße abgekommen und auf das Gleis gestürzt ist. Du weißt nicht, ob sie in letzter Zeit unter Depressionen litt?«
    »Msss MacDonald«, korrigierte Reggie ihn um Ms MacDonalds willen. »Sie meinen, sie hat sich umgebracht?« Reggie war geneigt, über diese Idee nachzudenken – Ms MacDonald starb schließlich und hatte vielleicht beschlossen, schnell zu gehen statt langsam –, bis ihr Banjo einfiel. Sie würde den Hund nie allein zurücklassen. Wenn Ms MacDonald Selbstmord begehen wollte, indem sie von einer Brücke fuhr und vor einem Schnellzug landete, hätte sie Banjo mitgenommen, auf dem Beifahrersitz des Saxo wie ein Maskottchen.
    »Nee«, sagte Reggie. »Ms MacDonald war eine miserable Autofahrerin.« Sie fügte nicht hinzu, dass Ms MacDonald entrückungsreif war, dass sie das Ende aller Dinge begrüßte und damit rechnete, ewig an einem Ort zu leben, der nach Scarborough klang, so wie sie ihn beschrieb.
    Reggie stellte sich vor, wie Ms MacDonald erfreut dem Schnellzug 125 zunickte, der auf sie zuschoss, und sagte: »Das ist also Gottes Wille.« Oder war sie erstaunt, blickte auf die Uhr, um zu kontrollieren, ob der Zug pünktlich war, und sagte: »Jetzt doch noch nicht?« In der einen Sekunde da, in der nächsten fort. Es war eine komisch alte Welt.
    Natürlich gab es auch die andere Möglichkeit, dass sie vor Panik außer sich war, als sie feststellte, dass der Tod mit hundertsechzig Stundenkilometern auf sie zudonnerte, dass sie zu verwirrt war, um etwas so Vernünftiges zu tun, wie auszusteigen und um ihr Leben zu laufen. Aber über dieses Szenario wollte Reggie lieber nicht nachdenken.
    »Und sie hatte einen Gehirntumor«, sagte sie und vermied es, dem indischen Polizisten in die Augen zu schauen für den Fall, dass sie sich in Verlegenheit brachte, indem sie errötete. »Ich meine, vielleicht ist er, ich weiß nicht, einfach explodiert.«
    »Wir brauchen jemand, der sie identifiziert«, sagte Wachtmeister Wiseman. »Meinst du, dass du das tun kannst?«
    »Jetzt?«
    »Morgen reicht.«
     
    Und jetzt war morgen.
    »Wir berichten weiter, sobald wir mehr wissen«, sagte der Reporter und schaute ernst in die Kamera. Dann folgte ein Schnitt zur Nachrichtensprecherin, deren Lächeln von der nahen Katastrophe nur wenig gemäßigt wurde. »Jetzt«, sagte sie, »freuen wir uns, im Studio die neueste Bewohnerin am Albert Square begrüßen zu dürfen, die in EastEnders bereits Wellen schlägt mit ihrer –« Reggie schaltete den Fernseher aus.
    Ihr fiel auf, wie still es im Haus war, als hätte jemand ausgeatmet und nicht wieder eingeatmet. Reggie betrachtete Banjo. Seine Augen waren wässrige Schlitze, die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul. Seine alten kleinen Lungen atmeten nicht mehr. Tot. In der einen Sekunde hier, fort in der nächsten. Der Atem war das Entscheidende. Er war alles. Atmen war der Unterschied zwischen lebendig und tot. Sie hatte einem Mann Leben eingehaucht, sollte sie das Gleiche bei dem Hund versuchen? Nein, wirklich, wenn er ein Mensch gewesen wäre, würde in dem winzigen Fässchen an seinem Halsband ein Zettel stecken mit der Aufschrift: »Nicht wiederbeleben.« Manche Menschen gingen früh (eine Menge mit Reggie verwandter Menschen), aber andere Menschen (und Hunde) gingen zur rechten Zeit.
    Eine große Blase von etwas wie Gelächter stieg in Reggies Brust auf, aber sie wusste, dass es Schmerz war. Sie hatte genauso reagiert, als sie von Mums Tod erfuhr – in einem Anruf von Sue (minus Carl) aus Warrington, weil Gary »zu bedrückt« war und nicht sprechen konnte. »Es tut mir leid, Liebe«, sagte Sue mit einer vom Rauchen heiseren Stimme. Sie klang, als würde sie es meinen, als läge ihr nach ein paar Tagen Bekanntschaft mehr an Mum als ihrer Schwester Linda nach einer gemeinsamen Kindheit.
    Reggie wünschte, sie hätte eine Schwester, jemanden, der Mum gekannt und geliebt hatte, damit sie ihr Andenken nicht ganz allein bewahren musste. Es gab Mary, Trish und Jean, aber im letzten Jahr hatten sie aus Mum eine traurige Erinnerung gemacht, für sie war sie keine reale Person mehr. Und Billy lag nur etwas an Billy. Wenn Reggie starb, wäre das das Ende von Mum. Wenn Reggie starb, wäre das natürlich auch das Ende von Reggie. Reggie wollte ein Dutzend Kinder, damit sie alle zusammenkommen und über sie reden könnten, wenn sie tot wäre (Erinnert ihr euch noch, als …?), und keins von ihnen hätte das

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