Lebenslügen / Roman
ächzenden Laut von sich, wie ihn Reggie nie zuvor gehört hatte. Die Telefonnummer des Tierarztes, geschrieben mit schwarzem Filzstift, klebte an der Wand neben dem Telefon. Reggie hoffte, dass nicht sie ihn würde rufen müssen. Sie streichelte gedankenverloren über den Kopf des Hundes, während sie ihren Toast aufaß. Sie hatte noch immer Heißhunger, als hätte sie mehrere Mahlzeiten ausgelassen. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein, als sie mit Ms MacDonald am Esstisch saß und ihre »speziellen« Spaghetti aß. Reggie hatte bei dem Gedanken an Ms MacDonald ein flaues Gefühl im Magen. Sie würde nie wieder an dem Tisch sitzen, nie wieder Spaghetti essen, nie wieder überhaupt etwas essen. Sie hatte ihr letztes Abendmahl zu sich genommen.
Der Mann vor Ort sprach noch immer. »Die Aussagen, was genau gestern Abend hier geschehen ist, gehen auseinander, und die Polizei hat bislang weder bestätigt noch dementiert, dass zum Zeitpunkt des Unglücks ein paar hundert Meter von hier ein Auto auf den Schienen stand.« Auf dem Bildschirm tauchte das Bild von einer Brücke über dem Gleis auf. Ein Auto war offenbar von der Straße abgekommen, hatte die Mauer der Brücke durchbrochen und war auf die Schienen darunter gestürzt.
Der Reporter sagte nicht, dass der Wagen ein blauer Citroën Saxo gewesen war oder dass sich Ms MacDonald darin befunden hatte, mausetot. Die Fakten waren noch nicht bekannt gegeben worden, nur Reggie wusste es, weil die Polizei letzte Nacht ins Haus kam, nachdem Reggie vom Unglücksort zurückgekehrt war, und ihr eine Menge Fragen zur »Bewohnerin des Hauses« stellte – wo war sie und wann erwartete Reggie sie zurück? Es waren zwei uniformierte Polizisten, einer mit rotem Gesicht und in mittleren Jahren (»Wachtmeister Bob Wiseman«), der andere ein Inder, klein, gut aussehend, jung und offenbar namenlos.
Sie hatten etwas missverstanden und hielten Reggie für Ms MacDonalds Tochter. (»Hat dich deine Mutter allein zu Hause gelassen?«) Der hübsche junge indische Polizist machte ihr eine Tasse Tee und reichte sie ihr nervös, als wäre er unsicher, was sie damit tun würde. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt schon Hunger und dachte an die Karamellwaffeln von Tunnock’s, die sie in diesem Moment mit Ms MacDonald hätte essen sollen. Sie nahm an, dass es unangemessen wäre, Kekse anzubieten, nachdem der ältere Polizist gerade zu ihr gesagt hatte: »Es tut mir wirklich leid, aber wir glauben, dass deine Mutter leider tot ist.«
Einen Augenblick lang war Reggie verwirrt, Mum war seit über einem Jahr tot, und es schien ein bisschen spät, ihr das jetzt erst mitzuteilen. Ihr Gehirn war Brei. Sie war vom Zugunglück zurückgekommen, nass bis auf die Haut und mit Erde, Schmutz und Blut besudelt. Das Blut des Mannes. Sie hatte sich ausgezogen und eine Ewigkeit unter Ms MacDonalds lauwarmer Dusche gestanden, bevor sie ihren lavendelfarbenen Fleecebademantel anzog, der etwas unangenehm roch und Flecken aufwies, wo Ms MacDonalds nächtliche Malzmilch heruntergetropft war. Draußen heulten noch immer Sirenen und flogen Hubschrauber.
Sie hatten den Mann mit einem Helikopter weggebracht. Reggie hatte zugesehen, wie er von einer Wiese neben dem Gleis abhob. »Das hast du gut gemacht«, sagte der Sanitäter zu ihr. »Jetzt hat er vielleicht noch eine Chance.«
»Sie ist nicht meine Mutter«, sagte Reggie zu dem älteren Polizisten.
»Wo ist denn deine Mutter, Kind?«, fragte er und blickte besorgt drein.
»Ich bin sechzehn«, sagte Reggie. »Ich bin kein Kind mehr, ich sehe für mein Alter nur jung aus. Dafür kann ich nichts.« Beide Polizisten betrachteten sie zweifelnd, sogar der attraktive Inder, der wie ein Sechstklässler aussah.
»Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen, wenn Sie wollen. Und meine Mutter ist schon länger tot«, sagte Reggie. »Alle sind tot.«
»Nicht alle«, sagte der Inder, eher als wollte er eine Fehlinformation berichtigen, als dass er freundlich sein wollte. Reggie sah ihn stirnrunzelnd an. Sie wünschte, sie hätte nicht Ms MacDonalds schäbigen Bademantel an. Er sollte nicht denken, dass sie sich freiwillig so anzog.
»Wir geben diese Informationen noch nicht an die Presse«, sagte der ältere Polizist. Er kam ihr bekannt vor, Reggie meinte, dass er einmal auf der Suche nach Billy bei ihnen gewesen war.
»Okay«, sagte Reggie und versuchte sich auf das, was er sagte, zu konzentrieren. Sie war so müde, müde bis in die Knochen.
»Wir wissen nicht genau,
Weitere Kostenlose Bücher