Lebenslügen / Roman
Nachrichtensprecherin mit ihrer besten ernsten Miene. Dann übergab sie an den Reporter, der »live vor Ort« war. Der Mann trug einen Trenchcoat, hielt ein Mikrofon in der Hand und versuchte nicht so auszusehen, als würde er gleich erfrieren, als wäre er nicht durch die Nacht gerast wie ein Ghul, um nach Schottland zu gelangen, Unmengen Adrenalin im Blut angesichts der Katastrophe. »Während es hier hell wird, können Sie hinter mir einen Ort absoluter Verwüstung sehen«, intonierte er feierlich. Am unteren Rand des Bildschirms stand »Zugunglück in Musselburgh«.
Im Hintergrund, der von Bogenlampen erhellt wurde, bewegten sich Menschen in fluoreszierenden gelben Jacken durch die Wrackteile. »Das erste schwere Gerät trifft ein«, sagte der Reporter, »während die Ermittlungen der Unfallursache beginnen.« Die Geräusche hochtouriger Motoren und rasselnder Maschinen waren die gleichen, die Reggie in Ms MacDonalds Wohnzimmer hören konnte. Wenn sie sich am Schlafzimmerfenster auf die Zehenspitzen stellte, könnte sie wahrscheinlich den Reporter sehen.
Nach Mums Tod kam eine Journalistin in die Wohnung. Sie war wesentlich nachlässiger gekleidet und weniger forsch als die Journalistinnen, die man im Fernsehen sah. Sie hatte einen Fotografen dabei, »Dave«, sagte die Frau und deutete auf einen Mann, der im Treppenhaus lauerte, als wartete er auf das Stichwort, um die Bühne zu betreten. Er winkte Reggie verlegen zu, als könnte sogar er, ein in hundert örtlichen Tragödien der einen oder anderen Art kampferprobter Veteran, verstehen, warum ein Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hatte, um acht Uhr morgens mit vom Weinen geröteten Augen nicht fotografiert werden wollte. »Verpissen Sie sich«, sagte Reggie und knallte der Journalistin die Tür vor der Nase zu. Mum wäre über ihre Ausdrucksweise entsetzt gewesen. Sie war selbst ziemlich entsetzt.
Die Journalistin schrieb die Meldung trotzdem. »Frau aus Edinburgh ertrinkt in spanischem Swimmingpool. Tochter zu mitgenommen, um Stellung zu nehmen.«
Banjo, der neben ihr auf dem Sofa lag wie ein geplatztes Kissen, wimmerte im Schlaf, seine Pfoten bewegten sich, als würde er im Traum Kaninchen jagen. Er hatte letzte Nacht nicht aufwachen wollen, hatte sich für nichts interessiert, und Reggie hatte ihn aufs Sofa gelegt, ihn mit einer Decke zugedeckt und selbst – weil sie ihn wohl kaum allein lassen konnte – in Ms MacDonalds ungastlichem Gästezimmer zwischen Laken aus Nylon-Velours unter einem dünnen, etwas feuchten Daunenbett geschlafen.
Zu Hause schlief Reggie jetzt in Mums Doppelbett, mit vielen daunenweichen Kissen, bezogen mit den rosa Laken mit Lochstickerei, die Mum am besten gefallen hatten, gereinigt von allen Spuren von Garys verschwitztem, haarigem Motorradfahrerkörper.
Vor Spanien hatte Reggie in dem Bett auf der anderen Seite der Wand gelegen, drei Kissen auf dem Kopf, um das kaum gedämpfte Gelächter und Knarren in Mums Zimmer nicht zu hören. Es war unglaublich peinlich gewesen. Keine Mutter sollte ihre jugendliche Tochter dem aussetzen.
Wenn sie im Dunkeln in Mums Bett lag, war es angenehm, dass draußen die Straßenlampe tröstlich brannte wie ein großes orangefarbenes Nachtlicht. Reggie hatte nur das Bett in Besitz genommen, weil ihr eigenes Schlafzimmer eine fensterlose Abstellkammer war. Der Rest des Zimmers gehörte noch Mum, ihre Kleider hingen im Schrank, ihre Kosmetiksachen standen auf dem Frisiertisch, ihre Hausschuhe unter dem Bett, wo sie geduldig auf ihre Füße warteten. Neues Glück von Danielle Steel lag noch auf dem Nachttisch, die Ecke von Seite 251 umgeknickt, wo Mum aufgehört hatte zu lesen, als sie nach Spanien flog. Reggie konnte es nicht von seinem letzten Ruheplatz entfernen. Mum hatte keine Bücher in den Urlaub mitgenommen. »Ich werde vermutlich keine Zeit zum Lesen haben«, sagte sie kichernd.
Mary, Trish und Jean hatten es aufgegeben, Reggie davon überzeugen zu wollen, Mums Sachen wegzugeben – sie hatten angeboten, alles einzupacken und »es loszuwerden«, aber Reggie kaufte selbst in Läden der Wohlfahrt und stellte sich vor, alte Taschenbücher und altdamenhaftes Porzellan durchzusehen und einen von Mums Röcken oder ein Paar ihrer Schuhe zu finden. Noch schlimmer – eine vollkommen fremde Person durchwühlte Mums Sachen. Wir gehen und lassen nichts zurück, sagte Dr. Hunter, aber das stimmte nicht, Mum hatte eine Menge zurückgelassen.
Banjo gab plötzlich einen merkwürdigen
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