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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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»Rettungsleine«. Sie benutzte es fortwährend – das Telefon im Haus »gehörte Neil«, sagte sie immer. Aber vielleicht musste sie in zu großer Eile zu dieser mysteriösen Tante fahren, um anzuhalten und Reggie anzurufen. Andererseits war Dr. Hunter nicht die Sorte Person, die nicht anrief. Reggie kam sich vernachlässigt vor, ein bisschen wie ein Dienstmädchen. Wann war sie fort? »Gestern Abend«, sagte Mr. Hunter.
    Es musste stockdunkel gewesen sein, als sie aufbrach. Reggie stellte sich vor, wie Dr. Hunter durch die Nacht und den Regen pflügte, das Baby schlief hinten im Kindersitz oder lenkte wach und quengelnd Dr. Hunter von der Straße ab, während sie in der Babytasche nach einem Keks kramte, um es zu beruhigen, und die Greatest Hits der Tweenies (die Lieblingslieder des Babys) das potenzielle Unfallrisiko weiter erhöhten. Es war merkwürdig, dass Dr. Hunter nach Yorkshire gefahren war, während zur gleichen Zeit der Zug, von Yorkshire kommend, in die Katastrophe, in Reggies Leben fuhr.
    Reggie hatte eine Tante in Australien – die Schwester ihrer Mutter, Linda. »Wir standen uns nie nahe, Linda und ich«, sagte Reggies Mutter. Nach Mums Tod musste Reggie einen verlegenen Anruf von Linda über sich ergehen lassen. »Wir standen uns nie nahe, deine Mum und ich«, wiederholte Linda. »Aber mein Beileid für deinen Verlust«, als wäre es nicht auch ihr Verlust, sondern allein Reggies. Vor dem Anruf hatte Reggie sich gefragt, ob Linda sie nach Australien einladen würde, um dort zu leben oder zumindest ein paar Wochen Ferien zu machen (Oh, du armes Kind, komm her, ich werde mich deiner annehmen), aber an diese Möglichkeit hatte Linda eindeutig nicht gedacht (»Also, pass gut auf dich auf, Regina«).
    Der Tag erstreckte sich plötzlich leer vor ihr. »Eine Weile freizuhaben wird dir Spaß machen«, sagte Mr. Hunter, aber es machte ihr überhaupt keinen Spaß, Reggie wollte nicht freihaben. Sie wollte Dr. Hunter und das Baby sehen, sie wollte Dr. Hunter von den Ereignissen der letzten Nacht erzählen – vom entgleisten Zug, von Ms MacDonald und dem Mann. Vor allem von dem Mann, wenn man darüber nachdachte, verdankte der Mann sein Leben (falls er noch am Leben war) nicht wirklich Reggie, sondern Dr. Hunter.
    Die ganze Nacht – oder das wenige, was noch übrig war, als sie ins Bett ging – wälzte sich Reggie ruhelos in der unvertrauten Umgebung von Ms MacDonalds Gästezimmer, rekapitulierte die Ereignisse der Nacht und platzte nahezu vor Aufregung bei der Vorstellung, sie Dr. Hunter zu erzählen. Na ja, Aufregung war vielleicht das falsche Wort, schreckliche Dinge waren auf dem Gleis passiert, aber Reggie war beteiligt gewesen, eine Augenzeugin und eine Betroffene. Leute, die sie kannte, waren gestorben. Leute, die sie nicht kannte, waren gestorben. Drama – das war ein besseres Wort. Und sie musste jemandem von dem Drama erzählen. Genauer gesagt, sie musste Dr. Hunter davon erzählen, weil Dr. Hunter die einzige Person war, die sich nach Mums Tod für ihr Leben interessierte.
    Dr. Hunter hätte sie in die Küche geführt, die Kaffeemaschine eingeschaltet, Reggie aufgefordert, sich an den schönen großen Holztisch zu setzen, und erst dann, wenn Becher mit Kaffee und ein Teller mit Schokoladenkeksen vor ihnen gestanden hätten (strenge Regel des Hauses, Reggie), hätte Dr. Hunter sie gespannt angesehen und gesagt: »Also gut, Reggie, erzähl mir alles«, und Reggie hätte tief Luft geholt und gesagt: »Haben Sie von dem Zugunglück gestern Abend gehört? Ich war dort.«
    Und jetzt hatte sie wegen einer Tante, einer Tante, die in H-a-w-e-s lebte, niemanden, dem sie es erzählen konnte. Andererseits wäre Dr. Hunter natürlich schon in der Arbeit gewesen, wenn Reggie gekommen wäre, und es wäre nur Mr. Hunter da gewesen (Was ist deine Geschichte, Reggie?), der bestenfalls ein unzulänglicher Zuhörer war.
     
    Reggie ging hinunter in Ms MacDonalds Küche, schaltete den Wasserkessel ein und löffelte Instantkaffee in einen »Ich glaube an Engel«-Becher. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, schob sie ihre widerlichen Kleider von letzter Nacht in die Waschmaschine, danach nahm sie alte Weißbrotscheiben aus dem Brotkasten, machte einen Jenga-Turm aus Toast und Marmelade und schaltete gerade rechtzeitig den Fernseher ein, um die Sieben-Uhr-Nachrichten auf GMTV zu sehen.
    »Fünfzehn Personen tot, vier in kritischem Zustand, viele Schwerverletzte«, sagte die

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