Lebenslügen / Roman
Gefühl, allein in der Welt zu sein.
Reggie hatte Dr. Hunter gefragt, ob sie noch mehr Kinder wollte, einen Bruder oder eine Schwester für das Baby, und sie zog ein komisches Gesicht und sagte, »Noch ein Baby?«, als wäre es eine abwegige Vorstellung. Und Reggie konnte sie verstehen. Das Baby war alles, es war der Eroberer der Welt, es war die Welt.
Reggie besuchte jede Woche Mums Grab und sprach mit ihr, und auf dem Rückweg von dieser Wallfahrt ging sie in die katholische Kirche und zündete eine Kerze für sie an. Sie glaubte nicht an diesen Hokuspokus, aber sie glaubte daran, die Toten lebendig zu halten. Jetzt müsste sie mehr Kerzen anzünden.
Sie wusste, dass es falsch war, aber der Tod des Hundes bekümmerte sie mehr als der Tod seines Frauchens. Reggie streichelte Banjos Ohren und schloss seine trüben Augen. Die Augen des toten Mannes, des Soldaten, gestern Abend waren halb geöffnet gewesen, doch Reggie hatte sie nicht geschlossen. Für solche Nettigkeiten war keine Zeit gewesen. Der indische Polizist irrte sich, alle waren tot. Es war, als wäre sie verflucht, als wäre sie in einem Horrorfilm. Carrie. Die vielen Menschen im Zug, vielleicht hatte sie sie auch auf dem Gewissen. »Gestörter Teenager oder Todesengel?«, sagte sie zum toten Hund. »Man muss sich schon fragen.« War der Mann auch tot? Vielleicht hatte sie ihn umgebracht, statt ihn zu retten, einfach indem sie in seiner Nähe war. Nicht der Odem des Lebens, sondern der Todeskuss.
Er war der zweite Mann, auf den sie stieß, als sie die schlammige Böschung halb hinunterrutschte und halb hinunterfiel. Der erste war der Soldat. Reggie richtete den Schein der Taschenlampe auf ihn und ging weiter. Sie nahm an, dass später noch Zeit genug wäre, darüber nachzudenken, wie er tot aussah. Der Lichtstrahl war schmal und zittrig. In Höhe der Oberschenkel, nicht in Augenhöhe. Mum hatte einst als Platzanweiserin im Dominion gearbeitet, wurde aber nach zwei Wochen gefeuert, weil sie Eis aß, ohne dafür zu zahlen.
Der zweite Mann hatte einen Puls, wenn auch einen ziemlich schwachen, aber ein Puls war ein Puls. Sein Arm sah übel zugerichtet aus, er blutete aus einer Arterie, und da sie nichts anderes hatte, zog sie ihre Jacke aus, rollte einen Ärmel zusammen und drückte damit auf den blutenden Arm, wie Dr. Hunter es ihr gezeigt hatte. Reggie rief nach Hilfe, aber sie befanden sich in einer Mulde, wo niemand sie sehen oder hören konnte. In der Ferne begannen die ersten Sirenen zu heulen.
Sie nahm noch einmal den Puls des Mannes, fand ihn aber nicht mehr. Ihre Finger waren glitschig von seinem Blut, vielleicht hatte sie sich geirrt? Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie dachte an Eliot, die Reanimationspuppe, die Dr. Hunter nach Hause mitgebracht hatte. Eliot war ganz anders als der Mann, dessen Leben plötzlich und unerwartet in ihren Händen lag. Sie wusste nicht, wie sie ihn beatmen sollte – ganz zu schweigen von der Herzmassage –, ohne den Druck von seiner blutenden Arterie zu nehmen. Es war wie ein Alptraumspiel Twister. Sie dachte an den spanischen Kellner, der versuchte, Leben in die Lungen ihrer Mutter zu hauchen. War er ebenso verzweifelt gewesen? Was, wenn er es ein bisschen länger versucht hätte, was, wenn ihre Mutter nicht tot gewesen war, sondern in einem wässrigen Schwebezustand und darauf wartete, ins Leben zurückgeholt zu werden? Der Gedanke rüttelte Reggie auf, und sie stemmte das Knie auf die improvisierte Kompresse und streckte sich dann wie eine große unbeholfene Spinne über den Körper des Mannes. Sie konnte es schaffen, wenn sie es wirklich versuchte.
»Bleiben Sie da«, sagte sie zu dem Mann. »Bitte, mir zuliebe.« Sie holte so tief wie möglich Luft und drückte ihren Mund auf seinen. Er schmeckte nach Chips mit Käse- und Zwiebelgeschmack.
Reggie fuhr von Ms MacDonald mit dem Bus nach Hause. Bevor sie aufbrach, wickelte sie Banjos Leiche in eine alte Strickjacke von Ms MacDonald und grub ein Loch für ihn in einem Blumenbeet. Ein kleines Päckchen Knochen. In Ms MacDonalds Garten war es wie an der Somme, und es war eine schreckliche Aufgabe, die kleine Leiche in das unfreundliche, schmutzige Loch zu legen. Nada y pues nada, hätten Hemingway und Ms MacDonald gesagt. Die ersten Dinge waren gut, die letzten nicht so sehr. Hätte Reggie gesagt.
Als Mum beerdigt, in ihr eigenes Loch in der Erde gelegt wurde, regnete es auch.
Es hatten sich einige Trauergäste eingefunden – Billy, Gary, Sue
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