Lebenslügen / Roman
und Carl aus Warrington – was nett von ihnen war, wenn man bedachte, dass sie Mum kaum kannten –, ein paar von Garys Motorradfreunden, ein paar Nachbarn, Mary, Trish und Jean natürlich, ziemlich viele Kollegen aus dem Supermarkt, der Geschäftsführer persönlich mit schwarzer Krawatte und in schwarzem Anzug, obwohl er Mum noch einen Monat zuvor mit der Kündigung gedroht hatte wegen »durchgehend schlechter Erfüllung des Zeitsolls«. Sogar der-Mann-der-vor-Gary-kam tauchte auf, lauerte im Hinterland des Friedhofs. Billy machte eine obszöne Geste in seine Richtung, woraufhin der Pfarrer über seine Worte stolperte.
»Kein schlechtes Ergebnis«, sagte Carl, als wäre er ein professioneller Begräbnisinspektor.
»Arme Jackie«, sagte Sue.
In der Kirche hatten sie zuvor »Bleib bei mir, Herr« gesungen, ein Lied, das Reggie ausgewählt hatte, weil Mum weinte, wann immer sie es hörte, da es bei der Beerdigung ihrer Mutter gesungen worden war. Reggie hatte die Beerdigung mit Hilfe von Mary, Trish und Jean organisiert. Mum war keine Kirchgängerin gewesen, deswegen war schwer zu entscheiden, was ihr gefallen hätte. »In der Kirche getauft, verheiratet und verabschiedet, wie die meisten von uns«, sagte Trish, als gäbe sie eine Weisheit von sich. »Es muss etwas geben, wenn man drüber nachdenkt«, sagte Jean. Reggie sah nicht ein, warum es irgendetwas geben musste. »Wir sind ganz allein«, sagte Dr. Hunter einmal zu ihr. »Ganz allein und hilflos treiben wird durch die unendliche Weite des Raums« (dachte sie dabei an Laika?), und Reggie sagte: »Aber wir haben doch uns, Dr. H.«, und Dr. Hunter sagte: »Ja, das stimmt, Reggie. Wir haben uns.«
Im Bus hatten nicht wenige Leute Reggie aufgrund ihrer Kleidung komische Blicke zugeworfen, und zwei Mädchen, nicht älter als zwölf, mit glänzendem Lipgloss und unglaublich langweiligen Geheimnissen, kicherten ganz unverhohlen. Reggie hätte am liebsten gesagt: Versucht ihr mal in der Garderobe einer wiedergeborenen ehemaligen Lehrerin mittleren Alters etwas zu finden, was man in der Öffentlichkeit tragen kann, ohne Spott auf sich zu ziehen. Mangels anderer Optionen hatte sich Reggie für Ms MacDonalds unauffälligste Kleidungsstücke entschieden – einen cremefarbenen Pullover aus Viskose, einen braunen Nylonanorak und eine schwarze Polyesterhose, die sie in der Taille hundertmal umstülpte und mit einem Gürtel zusammenhielt. Soweit Reggie wusste, besaß (hatte) Ms MacDonald nicht ein Stück (besessen), das nicht aus Synthetik war. Erst als sie Ms MacDonalds Sachen anzog, begriff Reggie, wie groß und breit sie gewesen war, bevor sie in ihren Kleidern schrumpfte, so dass sie ihr vom Körper hingen, als wäre sie ein Kleiderbügel.
»Die Frau hat große Knochen«, sagte Mum, nachdem sie Ms MacDonald auf dem ersten Elternabend kennengelernt hatte. Reggie dachte an Mum, die sich in der schrecklichen piekfeinen Schule unsicher und unwohl gefühlt hatte, während Ms MacDonald von Aischylos quasselte, als hätte Mum die leiseste Ahnung. Jetzt waren beide tot (ganz zu schweigen von Aischylos). Alle waren tot.
Ms MacDonalds Unterwäsche zog Reggie nicht an, die großen Hosen und ausgeleierten grauen BH s gingen einen Schritt zu weit. Ihre eigenen Kleider trockneten noch auf dem Gestell in Ms MacDonalds Bad, außer der Jacke, die so getränkt war mit dem Blut des Mannes, dass man sie nicht mehr retten konnte. »Fort, verdammter Fleck«, sagte sie zu der Mülltonne, als sie die Jacke hineinwarf. Sie hatten Macbeth in der Mittelstufe durchgenommen. Aber wer hätte gedacht, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich hätte? Er war nicht so alt. Alt genug, um ihr Vater zu sein. Er hieß Jackson Brodie. Sein Blut war auf ihren Händen gewesen, warmes Blut in der kalten Nacht. Sie war mit seinem Blut gewaschen.
Als er auf die Trage gehoben wurde, hatte sie die Hand in seine Jackentasche gesteckt in der Hoffnung, einen Ausweis zu finden, und eine Postkarte mit einem Bild von Brügge darauf herausgezogen, auf der Rückseite seine Adresse und der Text – Lieber Dad, Brügge ist sehr interessant, es gibt eine Menge hübscher Häuser. Es regnet. Habe ganz viel Pommes und Schokolade gegessen. Vermisse Dich! Liebe Dich! Xxx, Marlee.
Die Postkarte war noch in ihrer Tasche, schmutzig und blutig und zerknittert. Sie hatte jetzt zwei Postkarten, deren heitere Botschaften der Tod berührt hatte. Vermutlich sollte sie die des Mannes abgeben. Sie wollte sie dem Mann
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