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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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zurückgeben. Wenn er noch lebte. Der Arzt vom Hubschrauber hatte gesagt, dass sie ihn ins Royal Infirmary bringen würden, aber als sie heute Morgen dort anrief, hatten sie keine Unterlagen von einem Jackson Brodie. Reggie fragte sich, ob das bedeutete, dass er gestorben war.

Adam lag gebunden
    A lso nicht tot, noch nicht. Aber auch nicht wirklich lebendig. An einem geheimnisvollen Ort dazwischen.
    Wenn er es sich überhaupt vorgestellt hatte, hatte er es sich etwa so wie das Hilton am Flughafen Heathrow vorgestellt – eine fade beige Vorhölle, wo alle auf Durchreise waren. Hätte er während seiner katholischen Kindheit besser aufgepasst, hätte er sich vielleicht an die reinigenden Flammen des Fegefeuers erinnert. Sie verbrannten ihn jetzt unablässig, ein Feuer ohne Ende, als wäre er immerwährender Brennstoff. Er konnte sich auch an keine Lehre erinnern, die auf das beständige weiße Rauschen im Kopf hingewiesen hätte und auf das Gefühl, als krabbelten riesige Tausendfüßler über seine Haut, und das noch unangenehmere Gefühl, als würden große Kakerlaken, klack-klack, in seinem Gehirn weiden. Er fragte sich, was für andere Überraschungen Gottes Raststätte noch zu bieten hatte.
    Es war nicht fair, dachte er verdrossen. Wer behauptet, dass das Leben fair ist?, hatte sein Vater hundertmal zu ihm gesagt. Er selbst hatte es zu seiner eigenen Tochter gesagt. (Das ist nicht fair, Daddy.) Eltern waren elende Saftsäcke. Es sollte fair sein. Es sollte das Paradies sein.
    Der Tod, bemerkte Jackson, hatte ihn griesgrämig gemacht. Er sollte nicht hier sein, er sollte bei Niamh sein – wo immer das war –, der idyllische Ort, an dem alle toten Mädchen wandelten, auferstanden und verehrt. Scheiße. Sein Kopf tat wirklich weh. Es war nicht fair.
     
    Gelegentlich besuchten ihn Leute. Seine Mutter, sein Vater. Sie waren alle tot, deswegen wusste Jackson, dass er es auch sein musste. Ihre Konturen waren verschwommen, und wenn er sie zu lange ansah, begannen sie zu wackeln und zu verblassen. Er vermutete, dass auch seine Konturen verschwommen waren.
    Der Katalog der Toten schien zufällig zusammengestellt. Sein alter Erdkundelehrer, ein streitlustiger, apoplektischer Typ, der im Lehrerzimmer einen tödlichen Schlaganfall erlitten hatte. Jacksons allererste Freundin, ein nettes, unkompliziertes Mädchen namens Angela, die an ihrem dreißigsten Geburtstag in den Armen ihres Mannes an einem Aneurysma starb. Mrs. Patterson, eine alte Nachbarin, die bei seiner Mutter saß, Tee trank und klatschte, als Jackson ein Kind war. Jackson hatte seit Jahrzehnten nicht mehr an sie gedacht, es wäre ihm schwergefallen, ihren Namen zu nennen, wenn sie nicht neben seinem Bett aufgetaucht wäre, nach Kampfer riechend und eine alte kunstlederne Einkaufstasche in der Hand. Julias Schwester, Amelia, schaute vorbei (so aufsässig wie immer). Er fragte sich, ob ihre Anwesenheit bedeutete, dass sie auf dem Operationstisch gestorben war. Die Frau in Rot aus dem Zug kam eines Nachmittags, deutlich weniger lebhaft als das letzte Mal, als er sie gesehen hatte. Die Toten waren Legion. Er wünschte, sie würden aufhören, ihn zu besuchen.
    Es war anstrengend, tot zu sein. Er hatte mehr gesellschaftlichen Umgang als im Leben. Sie sprachen nicht mit ihm, mehr als ein unverständliches Murmeln konnte er ihnen nicht entlocken, doch Amelia rief ihm zu seiner Verwunderung plötzlich »Vollstopfen!« zu, und eine Frau mittleren Alters, der er nie zuvor begegnet war, neigte sich über ihn, um ihm ins Ohr zu flüstern und zu fragen, ob er ihren Hund gesehen habe. Sein Bruder kam nie, und seine Schwester kehrte nicht zurück. Sie war die einzige Person, die er wirklich sehen wollte.
    Er erwachte, als am Fußende des Betts ein kleiner Terrier bellte. Er wusste, dass er nicht wirklich wach war, nicht gemäß einer bislang gültigen Definition des Wortes. Mr. Spocks Stimme (oder Leonard Nimoys, je nachdem, wie man es betrachtete) murmelte ihm ins Ohr: »Es ist das Leben, Jackson, aber nicht wie wir es kennen.«
    Er hatte genug. Er wollte raus aus diesem Irrenhaus, und wenn er dabei umkäme. Er schlug die Augen auf.
    »Sie sind also wieder da?«, sagte eine Frauenstimme. Jemand wurde undeutlich sichtbar. Unscharf an den Kanten.
    »Unscharf«, sagte er. Vielleicht sagte er es nur in seinem Kopf. Er war im Krankenhaus. Die unscharfe Person war eine Krankenschwester. Er war am Leben. Offenbar.
    »Hallo, Soldat«, sagte die

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