Lebenslügen / Roman
Krankenschwester.
Außenseiterin
W as taten sie zu dieser unmenschlichen Stunde? Sie saßen wieder zu viert am Esstisch, diesmal um zu frühstücken. Patrick hatte französischen Toast gemacht, serviert mit Crème fraîche und nicht der Jahreszeit entsprechenden, aus Mexiko eingeflogenen Himbeeren, die Wedgewoodteller mit Puderzucker bestreut, als wären sie in einem Restaurant.
Bridget und Tim hatten ungestört geschlafen, Louise war stundenlang am Ort des Zugunglücks gewesen. Sie fühlte sich saft- und kraftlos, doch Patrick, der die ganze Nacht operiert hatte, während ein Unfallopfer nach dem anderen eingeliefert wurde, war sein gewohntes putzmunteres Selbst. Mr. Fix-it.
Louise goss sich eine Tasse Kaffee ein und betrachtete die roten Himbeeren auf dem weißen Teller, Blutstropfen im Schnee. Ein Märchen. Ihr war schlecht vor Müdigkeit. Sie war gefangen in einem Alptraum, es war wie in dem Film von Buñel, in dem sich alle zum Essen setzen, aber nie etwas serviert wird, nur dass sie ständig mit Essen konfrontiert wurde, das sie nicht verkraftete.
Bridget war früher Modeeinkäuferin für eine Kaufhauskette gewesen, worauf man nie gekommen wäre, so wie sie aussah. Sie trug ein aggressives dreiteiliges Outfit, das wahrscheinlich sehr teuer gewesen war, aber ein Muster hatte, als wären die Flaggen mehrerer obskurer Länder auseinander geschnitten und von einer blinden Taube wieder zusammengesetzt worden.
Tim war der Oberboss in einer großen Wirtschaftsprüfungsfirma gewesen und hatte sich »den Luxus einer frühen Pensionierung« gestattet. »Ich bin eine Golferwitwe«, sagte Bridget mit einer Miene spöttischer Trauer. Bridget sagte nicht, wie sie ihre Zeit verbrachte, und Louise fragte nicht, weil sie vermutete, dass die Antwort sie irritieren würde. Patrick war ein guter Ire, Bridget war eine schlechte Irin.
»Mexikanische Himbeeren?«, sagte Louise. »Wie absurd ist das? Und was ist mit dem ökologischen Fußabdruck?«
»Ach, nicht so früh am Tag, Louise«, sagte Tim und hielt sich erschöpft eine Hand an die Stirn. »Lasst uns nicht schon am Frühstückstisch über Transportwege reden.«
»Dort gehören sie aber hin«, sagte Louise. Wer war das pampige Kind in dieser Familie?
»Louise hat als Teenager nicht rebelliert«, sagte Patrick. »Das holt sie jetzt offenbar nach.« Er lachte, und Louise bedachte ihn mit einem langen Blick. Behandelte er sie von oben herab? Natürlich stimmte es, sie hatte in ihrer Jugend nicht gemeutert, weil es schwer war, über die Stränge zu schlagen, wenn die eigene Mutter spät (wenn überhaupt) nach Hause kam und kotzte wie die wildeste unerzogene Jugendliche. Louise war länger erwachsen als die meisten Menschen ihres Alters. Das holt sie jetzt nach. Offenbar. Sie hatte nie einen Vater – eine Nacht in Gran Canaria zählte wohl kaum –, und sie fragte sich, ob sie sich deswegen zu Patrick hingezogen fühlte, sah sie ihn unbewusst als die Vaterfigur, die sie nie gehabt hatte, war er so an ihren Widerständen vorbei unter ihre Bettdecke gelangt? Was machte das aus ihr – eine komplexe Elektra?
»Ich finde nicht, dass es rebellisch ist, wenn man über Verbraucherpolitik sprechen will«, sagte sie zu Tim. »Du etwa?«
Während er nach einer Antwort suchte, wandte sie sich an Patrick und sagte: »Französischer Toast. Oder Eierbrot, wie wir in den unteren Klassen gesagt haben.« Warum stach sie ihn nicht einfach mit der Gabel?
»Mein Vater hat sein ganzes Leben für die Stadtverwaltung von Dublin gearbeitet«, sagte Patrick freundlich. »Ich glaube, dass uns das kaum zu Mitgliedern der höheren gesellschaftlichen Ränge gemacht hat.« Er war Ire, seine Waffen waren Worte, Louise dagegen war eine geborene Straßenkämpferin und dachte einen kurzen, aber befriedigenden Augenblick daran, ihm den kostbaren französischen Toast an den Kopf zu werfen. Patrick lächelte sie an. Sie lächelte ebenfalls. Ehe – liebevolle Strenge.
»Ach, ich weiß nicht, Paddy«, meldete sich Bridget – die andere Hälfte von »uns« – zu Wort. »Dada war schließlich kein Müllmann, er war Landvermesser. Die Brennans gehörten nie zur Unterklasse.«
»Ein Hoch auf die Bourgeoisie«, sagte Louise. »Hoppla, habe ich das laut gesagt? Das wollte ich nicht.«
»Louise«, sagte Patrick leise und legte ihr die Hand auf den Arm.
»Louise was?«, sagte sie und schüttelte seine Hand ab.
»Das war’s dann wohl mit der Diät«, sagte Bridget, ignorierte entschlossen alle
Weitere Kostenlose Bücher