Lebenslügen / Roman
anderen und schaufelte sich das Essen in den Mund. Louise hätte am liebsten gesagt: Das hättest du schon vor langer Zeit sagen können, schaffte es aber, den Mund zu halten.
»Iss was, Louise«, sagte Patrick. Er tat es schon wieder, Dada weiß es am besten. Liebe ist geduldig, Liebe ist freundlich, rief sie sich ins Gedächtnis. Aber sollte sie wirklich eheliche Ratschläge von jemandem annehmen, der von einem frauenfeindlichen Römer aus dem ersten Jahrhundert abstammte? »Französisches Brot, Eiertoast, wie immer du es nennen willst«, sagte er, »du solltest etwas essen.«
»Schade wegen gestern Abend«, sagte Bridget.
»Dass das Zugunglück unser Abendessen ruiniert hat?«, sagte Louise. »Ja, jammerschade.«
»Gott sei Dank, dass wir mit dem Auto gekommen sind«, sagte Tim. Louise dachte daran, ihm Kaffee über das sich lichtende Haar zu gießen.
»Ich bin mir durchaus bewusst, dass es ein schreckliches Unglück war«, sagte Bridget geziert. »Der arme Paddy hat die ganze Nacht operiert.« Louise zählte natürlich nicht. Patrick war ein Heiliger. Er hatte Menschenleben gerettet, laut Bridget. »Normalerweise rettet er ihre Hüften«, sagte Louise, und Patrick lachte auf.
Ein netter, sauberer Operationssaal, nur ein bisschen Blut, ruhige Patienten, die sich nicht danebenbenahmen. Nicht draußen und schmutzig neben dem Gleis, vom Regen durchnässt, wo sie abgetrennte Gliedmaßen fand und schreiende Menschen oder schlimmer noch, Menschen, die nicht mehr schrien. Sie hatte einem Mann die Hand gehalten, während ein Arzt ihm an Ort und Stelle ein Bein amputierte. Sie trug noch immer ihren Diamantring, seine Facetten funkelten im Licht der Scheinwerfer. Sie hätte nicht hingehen müssen, aber sie war Polizistin, sie ging hin.
»Leitet die Bahnpolizei die Ermittlungen?«, fragte Tim, ganz Pracht und keine Herrlichkeit, als wüsste er etwas über das Vorgehen bei Unglücksfällen.
»Sie stellen den SLE «, sagte Louise ohne weitere Erklärung.
»Den stellvertretenden Leiter der Ermittlungen«, half Patrick ihm aus, als Tim verständnislos dreinblickte. Oder noch verständnisloser als üblich.
»Aber gibt es jetzt nicht ein – wie heißt es, Zugunglück-Ermittlungsbüro?«
»Dezernat.« Louise seufzte. »Es heißt Zugunglück-Ermittlungsdezernat. Die Bahnpolizei in Schottland ist nicht groß genug, um den Unfall allein aufzuklären.«
»Und wenn Menschen ums Leben kommen, wird automatisch der Staatsanwalt eingeschaltet«, sagte Patrick.
»Aber warum –«
Heiliger Geldsack. Wie langweilig konnte man sein?
Louise war es gleichgültig, über welchen Mist sie stolperte, er war auf jeden Fall besser als die Gesellschaft von Bridget und Tim. Patrick fuhr heute mit ihnen nach St. Andrews.
»Ich hoffe, dass ihr nicht Golf spielen wollt«, quengelte Bridget.
»Oh, das weiß man nie, vielleicht eine Runde.« Patrick lachte. Seiner Schwester gegenüber verhielt er sich erbarmungslos gut gelaunt, er sprühte nachgerade vor guter Laune. Das schien sie erfolgreich zu beschwichtigen, und Louise fragte sich, ob sie vor guter Laune sprühen konnte. Sie müsste sich schon sehr anstrengen.
Patrick fuhr mit der Rückseite seiner Fingerspitzen über ihre Hand, sanft, als wäre sie krank, unheilbar krank. »Wir wollen morgen vielleicht nach Glamis fahren. Wir würden uns freuen, wenn du mitkämst. Ich würde mich freuen«, fügte er leise hinzu. »Ich weiß, dass du morgen nicht arbeiten musst.«
»Es ist was dazwischen gekommen. Ich muss. Arbeiten.«
»Fahr vorsichtig«, sagte Louise, als sie endlich vom Frühstückstisch flüchten konnte.
»Ich fahre immer vorsichtig.«
»Andere nicht.«
Sie hätte zu Fuß zu den Hunters gehen können, aber sie tat es nicht, sie fuhr mit dem Auto.
Wenn man einen kräftigen Arm hatte, hätte man vom Dach ihres Hauses einen Stein werfen können, der in der Einfahrt der Hunters gelandet wäre. Gestern Joanna Hunter, heute Neil Hunter. Zwei vollkommen unterschiedliche Besuche zu zwei vollkommen unterschiedlichen Zwecken, doch es schien ein seltsamer Zufall, dass sie innerhalb von zwei Tagen sowohl die Frau als auch den Mann aufsuchen musste. Ein Zufall ist nur eine Erklärung, die darauf wartet zu passieren, hatte Jackson Brodie einmal zu ihr gesagt, aber wie man die Sache auch betrachtete, es gab keine Beziehung zwischen Andrew Deckers Freilassung und Neil Hunters derzeitigen Problemen. Und nur weil Jackson Brodie es sagte, musste es noch lange nicht stimmen. Er war
Weitere Kostenlose Bücher