Lebenslügen / Roman
ungeniert neben der Spüle auf den Boden fallen, dann zog er die Hundeleine vom Haken hinter der Tür und reichte sie ihr. Eine begeisterte Sadie sprang an ihm vorbei, als würde sie aus dem Gefängnis befreit.
»Ach, und Mr. H.«, sagte Reggie mutig (und reizte den Bären), »es ist Donnerstag. Dr. Hunter zahlt mich donnerstags.«
»Tut sie das?«, sagte Mr. Hunter. Er lächelte sie an, sein nettes Lächeln, das einen als besondere Person anerkannte, zog die Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans und reichte ihr ein dünnes Bündel Geldscheine, ohne sie zu zählen. »Gib nicht alles auf einmal aus«, sagte er und lachte, als gäbe er ihr Taschengeld, statt sie für geleistete Arbeit zu entlohnen. »Lass noch ein paar Sachen in den Läden, okay?«
»Sehr witzig, Mr. H. Danke.« Sinnlos, ihm zu erzählen, dass sie eingekauft hatte, weil zwei Scherzbolde ihre Wohnung und ihre Kleider verwüstet hatten. Die Hunters lebten nicht in dieser Welt. Reggie wollte in dieser Welt auch nicht leben.
Nachdem Mr. Hunter ins Haus zurückgekehrt war und die Tür geschlossen hatte, zählte Reggie das Geld. Es war die Hälfte dessen, was Dr. Hunter ihr gab.
In der Garage stand ein Korb mit Sadies Spielsachen, Bälle, Gummiknochen und -ringe und ein alter Teddybär, und Reggie sagte: »Wir holen dir einen Ball, Sadie.« Und Sadie stieß beim Wort »Ball« ein aufgeregtes Wau aus.
Früher schlossen die Hunters die Garage ab, aber dann verloren sie den Schlüssel, und niemand ließ einen nachmachen. Dr. Hunter sagte, das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass ihr Auto gestohlen würde, und das war versichert, also wozu die Aufregung? Mr. Hunter warf ihr eine leichtsinnige Haltung vor, und Dr. Hunter sagte, »Dann lass du doch einen Schlüssel nachmachen«, und das war wahrscheinlich die beste Annäherung an einen Streit, die Reggie erlebt hatte. Mr. Hunter wusste nichts von den Ersatzschlüsseln für das Auto, die Dr. Hunter auf einem Brett in der Garage aufbewahrte, hinter einer Dose Farbe (Umwölkte Perle, die Farbe, in der der Flur gestrichen war), denn dann würde er, laut Dr. Hunter, »an die Decke gehen«.
Die Garage war winzig, weil das Haus in einer Zeit errichtet worden war, als die meisten Menschen noch kein Auto hatten, geschweige denn zwei, sie war später auf einer kleinen Fläche neben dem Haus gebaut worden, durch einen schmalen Durchgang davon getrennt. Mr. Hunters großer Range Rover passte nicht hinein, und deswegen war es das gemütliche Heim von Dr. Hunters Toyota Prius. Reggie zwängte sich am Wagen vorbei zum Korb, um Sadies Lieblingsspielzeug zu holen, einen alten Gummiball, der so zerbissen war, dass er nicht mehr sprang.
»Komm, altes Mädchen«, sagte Reggie zum Hund, als sie die Garagentür schloss. Das sagte Dr. Hunter immer zu Sadie, wenn sie losgingen. Es war merkwürdig, für Sadie verantwortlich zu sein. Keine Dr. Hunter, kein Mr. Hunter, kein Baby. Reggie ging auf, dass sie nie zuvor allein mit dem Hund gewesen war. Sie zwängten sich durch die Lücke in der Hecke, die direkt auf die Wiese führte, auf der heute lustlos drei Pferde herumstanden, als warteten sie darauf, dass etwas geschehen würde. Reggie warf den Ball und rannte dann mit dem Hund über die Wiese, denn das mochte Sadie am liebsten.
Komisch. Dr. Hunter war gestern Abend nach Hawes gefahren. Sie ist gestern Abend runtergefahren, hatte Mr. Hunter am Telefon gesagt. Warum stand dann ihr Wagen in der Garage?
Als sie zurückkamen, war das Haus verschlossen, und Mr. Hunter war nicht da. Auf einem auffällig auf dem Küchentisch plazierten Zettel stand: »Liebe Reggie – ich hab was vergessen – Jo hat vorgeschlagen, dass Du unsere gemeinsame Freundin vielleicht zu Dir nach Hause mitnehmen und Dich um sie kümmern möchtest, bis sie zurück ist. Wahrscheinlich hast Du im Moment mehr Zeit als ich. Danke, Neil.« Reggie brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, dass der Hund gemeint war. Mr. Hunter schien schriftlich ein anderer Mensch zu sein, jedenfalls war er wortreicher. Geld für Hundefutter hatte er nicht erwähnt.
Komisch. Als sie mit dem Hund von der Wiese zurückkehrte, ging Reggie nach oben in Dr. Hunters Schlafzimmer – es war natürlich auch Mr. Hunters Schlafzimmer –, nicht aus irgendeinem besonderen Grund, sondern einfach um dort zu sein und sich Dr. Hunter näher zu fühlen. Das hätte sie nicht tun sollen, das wusste sie, aber sie schadete ja niemandem damit.
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