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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Dr. Hunter hätte nichts dagegen gehabt, Mr. Hunter wahrscheinlich schon.
    Das Bett war nicht gemacht – Mr. Hunters »Junggesellenregeln«. Ansonsten war es ziemlich aufgeräumt, aber nicht ganz so aufgeräumt, wie wenn Dr. Hunter zu Hause gewesen wäre. Sadie ging durch das Zimmer, schnüffelte überall wie ein Spürhund – an den Betten, am Teppich, an der Plastikhülle mit dem Kostüm, das Dr. Hunter gestern mitgebracht und über eine Stuhllehne gelegt hatte. Reggie nahm das frisch gereinigte Kostüm aus der Hülle und hängte es in den Schrank neben Dr. Hunters anderes Kostüm. Der Schrank war groß und begehbar, eine Seite für Dr. Hunter, die andere für Mr. Hunter. Alle Kleider auf Dr. Hunters Seite dufteten leicht nach ihrem Parfum. Die schlichte blaue Flasche stand auf der Kommode neben Dr. Hunters altmodischer silberner Haarbürste, ihrem Ersatzasthmaspray und einem Foto des Babys, als es erst ein paar Tage alt war und noch darauf zu warten schien, aufgeblasen zu werden. Reggie tupfte ein paar Tropfen des Parfums auf die Innenseiten ihrer Handgelenke. Je Reviens. Ein Versprechen. Oder eine Drohung. Hasta la vista, Baby. Bin gleich zurück.
    Wo war das dritte Kostüm? Am Kragen des Kostüms, das bereits im Schrank hing, steckte der kleine rosa Zettel der Reinigung, demnach musste Dr. Hunter das fehlende Kostüm gestern getragen haben. Es war nirgendwo zu sehen. War sie die ganze Strecke nach Yorkshire zu der mysteriösen kranken Tante gefahren, ohne sich vorher umzuziehen? Das schien ganz und gar untypisch für Dr. Hunter, die sich sofort umzog, kaum war sie von der Arbeit zurück, sie schlüpfte aus den Schuhen, hängte das Kostüm auf und zog sich etwas Lässiges an, Jeans normalerweise. »So, jetzt bin ich wieder ich«, sagte sie manchmal, als wäre das Kostüm eine Verkleidung.
    Auf dem Teppich vor der Kommode befanden sich Dr. Hunters schwarze Pumps, einer stand, der andere war umgefallen, als hätte Dr. Hunter sie gerade ausgezogen. Sadie schnüffelte gierig an beiden Schuhen, als sollte sie gleich losgeschickt werden, um die Geruchsspur zu verfolgen. Neben den Schuhen lag Dr. Hunters Strumpfhose in einem faltigen Häufchen, blass und leer, wie eine zurückgelassene Schlangenhaut.
    Beim Betrachten des Schrankinhalts hatte Reggie ein merkwürdiges Gefühl, ein bisschen wie wenn sie Mums Kleider im Schrank anschaute oder Ms MacDonalds Sachen im Container. Sadie schien es genauso zu gehen, denn sie ließ sich neben den Schuhen auf den Boden fallen und winselte kurz traurig. Reggie wollte Dr. Hunters Stimme hören, die sagte: »Ich bin bald wieder da, Reggie, mach dir keine Sorgen.« Reggie war überzeugt, dass Dr. Hunter sich nicht »gestört« fühlen würde, wenn sie anriefe. Sie wählte erneut Dr. Hunters Nummer auf ihrem Handy, aber gerade als es am anderen Ende der Leitung anfing zu klingeln, hörte sie ein Auto vorfahren. Sadie stellte die Ohren auf und stand auf. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte, dass es der Range Rover war. »Zucker«, sagte Reggie zum Hund.
    Einen irren Augenblick lang dachte sie daran, sich im Schrank zu verstecken, aber wenn die Leute das in Horrorfilmen taten, ging es nie gut aus. Entweder wurden sie gefunden und ermordet oder sie mussten hinter den Lamellentüren ihres Verstecks etwas Schreckliches mit ansehen.
    Komisch. Nachdem sie Dr. Hunters Handy (meine Rettungsleine) angerufen hatte, hatte sie es unzweideutig klingeln hören – Bachs »Krebskanon«. (»So genannt«, erklärte Dr. Hunter, »weil die zweite Stimme genau die gleichen Noten spielt wie die erste, nur rückwärts«, was Reggie nicht ganz verstand, aber sie lächelte und nickte und sagte: »Genau, ich hab’s kapiert.«) Das Handy klingelte irgendwo unten. Reggie war halb die Treppe hinunter auf der Jagd nach dem Handy – der Bach klang, als spielte er in der Küche –, als Mr. Hunter mit gewohnter Rasanz durch die Tür stürzte und bei ihrem Anblick wie angewurzelt stehenblieb.
    »Noch immer hier, Reggie?«
    »War nur auf dem Klo«, sagte Reggie und heuchelte Nonchalance. Das Handy hatte eine Sekunde nachdem Mr. Hunter das Haus betreten hatte, aufgehört zu klingeln.
    »Hast du kein Zuhause?«, fragte Mr. Hunter.
    »Doch, klar hab ich das«, sagte sie und marschierte an ihm vorbei und zur Tür hinaus. Sadie raste an ihr vorbei, nahm am Rand der Einfahrt vertraute Gerüche auf. Als Reggie am Tor war, pfiff sie nach Sadie, die zu ihr trottete mit aufgeregt wedelndem

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