Lebenslügen / Roman
sogar tausend Pfund in bar versprochen, wenn sie es bis einundzwanzig schaffte, ohne ihre Haut mit einem Schmetterling oder einem Delphin oder dem chinesischen Schriftzeichen für »Glück« verzieren zu lassen. Jackson selbst hatte sich auf die eine sinnvolle Nachricht in Kleinbuchstaben beschränkt – »Blutgruppe A positiv«, mittlerweile nur noch ein verblasstes blaues Souvenir aus einem anderen Leben. »A positiv« – eine nette, weitverbreitete Blutgruppe, die er mit ungefähr fünfunddreißig Prozent der Bevölkerung gemein hatte. Jede Menge Spender. Und die hatte er offenbar gebraucht, jeder verlorene Milliliter roten Bluts war ersetzt worden dank einer Serie von Blutsbrüdern und -schwestern, die verhinderten, dass er ausradiert wurde.
»Wir dachten, wir hätten die Arterie, aber Sie haben nicht aufgehört das Blut rauszupumpen. Wir mussten’s ein paarmal versuchen«, sagte ein gutgelaunter Arzt zu ihm. »Dr. Bruce, nennen Sie mich Mike«, sagte er. Er saß am Fußende von Jacksons Bett und grinste ihn an, als hätten sie sich gerade in einer Bar kennengelernt. Nennen-Sie-mich-Mike war zu jung, um Arzt zu sein. Jackson fragte sich, ob die Krankenschwestern wussten, dass ein Junge aus der Grundschule hier sein Unwesen trieb.
»Halten Sie ihn bei Laune«, flüsterte die – jetzt weniger – unscharfe Schwester Jackson ins Ohr. »Er hält sich für erwachsen.«
»Danke«, sagte Jackson zu ihm.
»Keine Ursache, Kumpel.«
Ein australischer Schulbub.
Der Facharzt, »Dr. Samms – nennen-Sie-mich-Charlie«, sah aus wie Harry Potter. Jackson wollte nicht von einem Arzt behandelt werden, der wie Harry Potter aussah, aber er war nicht in der Position, es abzulehnen. »Sie scheinen einen kleinen Schlag auf den Kopf abgekriegt zu haben«, sagte der Zauberlehrling. »Ist das früher auch schon mal passiert?«
»Kann sein«, sagte Jackson.
»Keine gute Idee«, sagte der Zauberlehrling, als wären Schläge auf den Kopf etwas, wofür man sich freiwillig anstellte.
»Unscharf«, sagte Jackson. Es war eindeutig sein Lieblingswort. Als seine Tochter das Sprechen lernte, war ihr erstes Wort »Hund«. Sie benutzte es für alles – Enten, Milch, Buggy –, was sie im Leben interessierte, alles war »Hund«. Eine Ein-Wort-Welt. Es machte das Leben einfacher, er musste sie anrufen und es ihr erzählen. Sobald er sich an ihren Namen erinnern konnte. Oder an seinen eigenen.
Er schlief, und als er erneut aufwachte, stand eine andere Schwester an seinem Bett.
»Wer bin ich?«, fragte er. Er klang wie ein Amateurphilosoph, aber es war keine metaphysische Frage. Wirklich, wer war er?
»Sie heißen Andrew Decker«, sagte sie.
»Wirklich?«, sagte Jackson. Der Name kam ihm im dunklen Loch seiner verlorenen Erinnerungen vage, ganz vage bekannt vor, aber er hatte keinerlei Beziehung dazu. Er fühlte sich nicht wie ein Andrew Decker, aber andererseits fühlte er sich nicht wirklich wie jemand. »Woher wissen Sie das?«
»Ihre Brieftasche war in Ihrer Jackentasche«, sagte die Schwester. »Darin war ein Führerschein mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse. Die Polizei versucht, dort Bescheid zu sagen.«
Seine Ellenschlagader war teilweise durchtrennt worden und hatte zu »starkem und raschem Ausbluten« geführt, sagte das Potter-Double. Sein Blutdruck war gesunken, und er war in einen Schockzustand gefallen. Sein Gehirn war nicht mehr versorgt worden. »Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Schüttelfrost?«, sagte der australische Mike, der fliegende Arzt. Er sah aus, als würde er mehr Drogen nehmen als seine Patienten. »Übelkeit, Verwirrung, Desorientierung, Halluzinationen. Ja?«
»Ich war in einem weißen Korridor.«
»Das ist ein Klischee«, sagte der Zauberlehrling.
»Sagen Sie das nicht, solange Sie nicht dort waren«, sagte Jackson.
»Sie werden sich vielleicht nie an den Unfall erinnern«, sagte der fliegende Arzt. »Wahrscheinlich wurde er nie in Ihr Langzeitgedächtnis transferiert. Aber an alles andere werden Sie sich wieder erinnern. Schließlich ist Ihnen ja schon eingefallen, dass Sie eine Tochter haben.«
Jemand hatte erste Hilfe geleistet, hatte sein Leben am Unfallort gerettet. Eine Person mehr, der er nie würde danken können.
Eine Polizistin setzte sich neben sein Bett und wartete geduldig, bis er sie wahrnahm. Jemand war zu der Adresse auf seinem Führerschein gegangen, und die Leute, die dort wohnten, hatten noch nie von einem »Andrew Decker« gehört. Es war ein alter Führerschein, nicht ein
Weitere Kostenlose Bücher