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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Frau?« Sie lächelte ihn mitfühlend an. »Können Sie sich erinnern?«
    »Nein«, sagte er. In seinem Kopf fiel die Antwort länger aus und lautete, dass er Tessa nicht anrufen und aufregen wollte, dass sie nicht früher aus den USA zuückkommen brauchte, weil er nicht länger tot war, aber mehr als ein »Nein« schaffte er nicht.
    Das hieß nicht, dass er sie nicht bei sich haben wollte. Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, doch er brachte nur einen verschwommenen, Tessa-förmigen Fleck zustande. Er konzentrierte sich auf das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, in der Küche, wo sie ihre Tasse spülte und auf die Ablauffläche stellte (sie war sehr ordentlich, ließ nie etwas unerledigt). Das Haar hochgesteckt, kein Make-up, kein Schmuck außer der Armbanduhr (»Reiseoutfit«), schwarze Hose und beigefarbener Pullover. Der Pullover fühlte sich unglaublich weich an, als er sie in den Armen hielt. Er konnte sich besser an den Pullover als an Tessa erinnern.
    Dann küsste sie ihn und sagte: »Ich muss zum Flughafen. Hoffentlich vermisst du mich.« Er wollte sie nach Heathrow fahren, aber sie meinte: »Sei nicht albern, ich fahre mit der U-Bahn nach Paddington und nehme von dort den Heathrow Express.« Er wollte nicht, dass sie U-Bahn fuhr, er wollte nicht, dass überhaupt jemand U-Bahn fuhr. Feuer und Unfälle und Selbstmordattentäter und Polizeischützen und Wahnsinnige, die einen mit einem kleinen Stoß in den Rücken vor einen Zug warfen – die U-Bahn war ein fruchtbarer Nährboden für Katastrophen. Früher dachte er nicht so, er hatte zwei Kriege und ein Leben voller entsetzlicher Ereignisse auf dem Buckel, aber irgendwo auf dieser einsamen Straße war er an dem Punkt vorbeigekommen, wo mehr Jahre hinter ihm als vor ihm lagen, und er hatte plötzlich begonnen, den zufälligen Horror der Welt zu fürchten. Der entgleiste Zug war die letzte Bestätigung.
    »Ich bin sicher, sie wird Ihnen bald einfallen«, sagte die Polizistin. »Für Ihre Genesung ist es wahrscheinlich am besten, wenn Sie sich keine Sorgen machen.«
    »Ich war früher Polizist«, sagte Jackson. Jedes Mal, wenn er in seinem existenziellen Labyrinth in eine Sackgasse geriet, schien er es für notwendig zu halten, dies festzustellen. Seine Identität mochte in Frage stehen, aber dieser Tatsache war er sich sicher.
    Es war unwahrscheinlich, dass Tessa in Washington von dem Zugunglück erfuhr, in Europa musste schon etwas ziemlich Großes passieren, damit es ins amerikanische Bewusstsein sickerte. Schlimmstenfalls hätte sie ihm eine SMS geschickt und sich gewundert, warum er nicht antwortete, doch sie würde nicht sofort die Schlussfolgerung ziehen, dass er in Schwierigkeiten steckte, im Gegensatz zu seiner ersten Frau, Josie. Seine erste Frau, wie seltsam das klang, vor allem weil sie es amüsant fand, sich selbst mit Hallo, ich bin Jacksons erste Frau vorzustellen, als sie mit ihm verheiratet war.
    Selbstverständlich hatte Tessa keine Ahnung, dass er in dem Zug gesessen hatte, sie wusste nicht, dass er nicht in London war, weil er es nicht erwähnt, weil er nicht zu ihr gesagt hatte: »Kaum bist du unterwegs zum Flughafen, fahre ich nach Norden, um meinen Sohn zu sehen.« Er hatte es ihr deswegen nicht gesagt, weil er ihr nie von Nathan erzählt hatte. Nicht wenige Sünden der Unterlassung, noch dazu in einer so jungen Ehe, in der es keine Geheimnisse geben sollte. Und selbst wenn sie gewusst hätte, dass er mit dem King’s-Cross-Zug fuhr, wäre es gleichgültig gewesen, weil er es ja nicht tat. Sie fahren in die falsche Richtung. Sein Kopf schmerzte. Zu viel Nachdenken macht aus Jackson einen dummen Jungen.
     
    Seitdem sie sich kannten, waren sie kaum getrennt gewesen. Sie ging natürlich jeden Tag zur Arbeit, und sie trafen sich oft im British Museum zum Mittagessen. Manchmal schlenderten sie nach dem Essen durch das Gebäude, Tessa erzählte ihm etwas zu Ausstellungsstücken. Sie war Kuratorin, »Assyrisch hauptsächlich«, sagte sie, als sie sich kennenlernten. »Für mich ist das alles griechisch«, scherzte Jackson lahm. Der Assyrer brach ein wie ein Wolf in die Herde. Selbst die von ihr geführten Touren durch den assyrischen Teil machten ihn nicht viel klüger. Er war überzeugt, dass es ein besseres Wort als »Teil« gab. War »Abteilung« nicht das richtige Wort? »Die assyrische Abteilung« – das klang nicht richtig, es klang wie eine bürokratische Nische in der Unterwelt.
    Trotz einiger sorgfältig formulierter

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