Lebenslügen / Roman
Erklärungen von Tessa war er sich immer noch nicht ganz sicher, dass er das Wo/Was/Wann von Assyrien verstanden hatte. Er glaubte, dass es etwas mit Babylon zu tun hatte. An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Psalm 137. Wir gedachten an Zion, wir gedachten an unsere Lieder, denn hier durften wir nicht singen. Das Lied des Exils. War nicht jeder im Exil? Zuinnerst? War er rührselig? Wahrscheinlich.
Neue Informationen waren schwer zu behalten wegen der Menge nutzloser Informationen, die sein Gehirn zumüllten. Merkwürdig war, dass er aus der Schulzeit nur Gedichte erinnerte, wahrscheinlich waren das die Unterrichtsstunden, in denen er am wenigsten aufgepasst hatte. Ein schmutziger britischer Küstendampfer mit salzverkrustetem Schornstein.
In seiner Brieftasche bewahrte er ein Foto von ihr auf, neben dem von Marlee, aber seine Brieftasche wurde noch vermisst. Er konnte sich einzelne Züge vorstellen, die braunen Augen mit den langen Wimpern, die hübsche gerade Nase, ein schönes Ohr, aber nichts fügte sich zu einem Gesamtbild zusammen. Sie war eher ein Picasso als ein Vermeer. Er hätte Tessa eingehender betrachten, mehr Fotos von ihr machen sollen, aber sie war chronisch kamerascheu, kaum sah sie eine Linse, hielt sie eine Hand vors Gesicht, lachte und sagte: »Nein, nicht! Ich sehe schrecklich aus.« Sie sah nie schrecklich aus, selbst am Morgen, gleich nach dem Erwachen, schien sie makellos. Schwer zu glauben, dass sie sich von allen Männern der Welt ausgerechnet für ihn entschieden hatte. (»Sehr schwer zu glauben«, stimmte Josie ihm zu.)
Der objektive, des Lebens überdrüssige Teil von Jackson wusste, dass er von der Liebe verwirrt war, dass er sich noch in den berauschenden Frühlingstagen der Beziehung befand, wenn alles im Garten rosig blüht. Meine Liebe ist eine blutrote Rose. Nein, nicht Blut. Rot. Rote, rote Rose. »Du bist noch immer pubertär und unreif«, sagte Julia. »Unerfahren im Urteilen.« »Und was genau findet diese Musterfrau an dir?«, fragte Josie. »Abgesehen vom Geld natürlich.«
»Wie alt ist sie?«, fragte Julia, eine Schauspielermiene des Entsetzens im Gesicht.
»Vierunddreißig«, sagte Jackson vernünftigerweise.
»Das nennt man Mädchenraub, Jackson«, sagte Josie.
»Blödsinn«, sagte Jackson.
»Du weißt doch, dass Verliebtsein eine Spielart des Wahnsinns ist, oder?«, sagte Amelia. (»Dann muss es eine folie á deux sein«, sagte Tessa und lachte, als er es ihr erzählte.) Amelia war einst (haarsträubend sich daran zu erinnern) in Jackson verliebt gewesen. Er musste Julia anrufen und sich nach Amelias Operation erkundigen. War sie tot? Julia wäre untröstlich. Neben seinem Bett stand ein Telefon, aber um es zu benutzen, brauchte er seine Kreditkarte, und seine Kreditkarte war in seiner Brieftasche. Wenn er Andrew Deckers Brieftasche hatte, hatte dann Andrew Decker seine? In Andrew Deckers Brieftasche befand sich fast nichts, der alte Führerschein, ein Zehn-Pfund-Geldschein. Er reiste mit wenig Gepäck. Lag er irgendwo im Krankenhaus?
Das Foto in seiner Brieftasche war das einzige, das er von Tessa hatte, aufgenommen mit Jacksons Kamera von einem der unbekannten Trauzeugen nach der hastigen Hochzeit, und sogar bei dieser glückverheißenden Gelegenheit hatte sie versucht, sich abzuwenden. Jetzt hatte er nicht einmal mehr das. Keine Brieftasche, keinen BlackBerry, kein Geld, keine Kleider. Nackt geboren, nackt wiedergeboren.
»Wir kennen uns kaum«, sagte sie, als er ihr den Antrag machte.
»Dafür ist die Ehe da«, sagte Jackson, obwohl seine Erfahrungen mit der Ehe eher für das Gegenteil sprachen – je länger er mit Josie verheiratet war, umso weniger schienen sie sich zu verstehen.
Tessa behielt ihren Namen, sie habe sich nie als Mrs. Brodie gesehen, sagte sie. Auch Josie hatte seinen Namen nicht angenommen, als sie heirateten.
Die letzte »Mrs. Brodie«, die Jackson kannte, war seine Mutter gewesen. Jacksons Schwester, ein in jeder Beziehung altmodisches Mädchen, hatte es gar nicht erwarten können, zu heiraten und ihren Mädchennamen abzulegen und »Mrs. Jemand Anders zu werden«. Das war sie gewesen – ein Mädchen, eine Jungfrau, »die sich für Mr. Richtig aufsparte«. Jede Menge Jungen waren hinter ihr her, aber sie hatte noch keinen festen Freund, als sie vergewaltigt und ermordet wurde. In der untersten Schublade der kleinen Kommode in ihrem Zimmer lagen ordentliche Schichten von Geschirrtüchern und
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