Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Partner verlieben würden, wäre das allerdings äußerst lästig. Auch der Pornokonsument erlebt Sex nicht mehr ganzheitlich, sondern nur noch als beziehungslosen hormonellen Vorgang. Alles schön anonym und steril. Man hat gesagt, das Feigenblatt sei von den Geschlechtsteilen ins Gesicht verrutscht. Letzte Konsequenz ist neuerdings Cybersex: Ansteckungsfreie industrielle Orgasmusproduktion. Lust und Liebe? Fehlanzeige! Verklemmtheit pur! So schrumpft Sexualität zur Gymnastikübung mit oder ohne Körperberührung. Sie wird zur Ware, der sexuelle Akt zum persönlichen Leistungs- und Marktwerttest. Der große Profiteur dieser Entwicklung ist die boomende Pornoindustrie, die große Verliererin ausgerechnet die Lebenslust. Sexualwissenschaftler beklagen, der persönliche sexuelle Lustgewinn sei abgesunken, die »Coitusfrequenz« sinke dramatisch.
Gegen diese nüchternen Fakten läuft eine absurde Desinformationskampagne, die von massiven finanziellen Interessen gespeist wird. Schon seit den vierziger Jahren wurden – wie wir heute wissen – zum Teil absichtlich gefälschte Statistiken unter die Leute gebracht, die »beweisen« sollten, dass die Menschen in Wirklichkeit erheblich »verdorbener« seien, als man so gemeinhin dachte. Das wirkte psychologisch wie eine Selffullfilling Prophecy, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, und ermutigte Menschen, die gerne im Trend liegen, auch sexuell etwas dafür zu tun, im Trend zu sein. Mit bisweilen desaströsen Folgen. Auch heute spielen unseriöse Statistiken eine große Rolle in dem Geschäft. Fragen Sie mal spätpubertäre Jungmänner in der Eckkneipe, mit wie vielen Frauen sie wie oft und wie lange und überhaupt … Sie werden beeindruckende Zahlen erhalten. Aber nicht nur Zahlen werden genutzt, auch konkrete Berichte müssen her. Einschlägige Magazine suggerieren, freier Sex an jeder Straßenecke und mit wechselnden Partnern oder Tantra in einer Berliner Etagenwohnung seien nicht nur ein Höhepunkt an Lustgewinn, sondern auch ein mutiger Tabubruch und ein Ausbund an Liberalität und Modernität. Gezeigt werden dann zumeist irgendwelche ziemlich gehemmten, aber nackten Pärchen. Dabei herrscht eine Stimmung von kindlicher Naivität, spießigem »das machen doch alle« und pädagogischem Eros. Oswald Kolle war der erfolgreiche Urtyp des deutschen Lehrers, dem es gelang, der Sexualität mit der akribischen Nüchternheit von »Brehms Tierleben« jede wirkliche Lust und jede Erotik auszutreiben.
Unvermeidlich in dem Zusammenhang übrigens der Hinweis, dass die Ausübung der Sexualität die Gesundheit fördere. Man stelle sich vor: Geschlechtsverkehr, der petite mort der französischen erotischen Literatur, zur Stabilisierung der Blutdruckamplitude. Das ist das definitive Ende sexueller Lebenslust. Ein Giacomo Casanova hätte all solchen erotischen Analphabetismus mit ätzendem Spott übergossen. Dass die allgemeine hysterisch-exhibitionistische Atmosphäre eher für sexuelle Erlebnisstörungen spricht, wissen freilich nur Fachleute. Schließlich bevölkern Pornostars die Talkshows, die mit aufwendig hergestelltem Körper und eiskalten Augen wie Registrierkassen pflichtgemäß verkünden, das mache ihnen alles so viel Spaß, dass es ihnen fast peinlich sei, dafür Geld zu bekommen. Außerdem würden sie bald heiraten wollen, die große Liebe natürlich, und Treue sei ganz wichtig und Kinder wollten sie natürlich später auch. Der beabsichtigte Effekt ist vor allem ein indirekter: Alles irgendwie ganz normal!
Doch das Gegenteil ist der Fall. Was da der aufnahmebereiten Öffentlichkeit mit Milliardenaufwand eingetrichtert wird, ist geschickt verpackter, werbestrategisch aufbereiteter Unsinn. Allerdings folgenreicher Unsinn. Zu Risiken und Nebenwirkungen dieses Unsinns stellt der weltweit bekannteste Paartherapeut Jürg Willi fest, das Experiment mit der freien Liebe in den sechziger und siebziger Jahren sei komplett gescheitert. Sexuelle Untreue sei die sicherste Methode, eine Partnerschaft zu ruinieren. Und Sexualwissenschaftler fügen hinzu, dass das orgasmusfixierte sexuelle Leistungsdenken der sicherste Weg zu Impotenz und Frigidität sei, wie andererseits die Isolierung beziehungsloser Sexualität inzwischen das Phänomen der Sex-Sucht hervorgebracht habe. Man macht immer mehr desselben von dem, was nicht funktioniert, und wird dadurch nur noch frustrierter, leerer und einsamer.
Angesichts dieser Lage erklärt Jürg Willi, für Lebenslust und Lebensglück
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