Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Schlussverkauf der alten Selbstverwirklichungsmode.
So mag man zwar über die katholische Kirche unterschiedlicher Auffassung sein, doch zur Lebenslust hat die alte Dame wirklich etwas zu sagen. Freilich verbauen die falschen Klischees vielen Menschen den Zugang. Dass zum Beispiel der Sündenfall von Adam und Eva mit sexueller Verführung zu tun hatte, ist eine verquere Idee aus dem bürgerlichen Mädchenpensionat, jedenfalls nicht katholische Auffassung. Der Sündenfall war aus christlicher Sicht die rücksichtslose, stolze und eigensüchtige Durchsetzung des eigenen Ich gegen alle göttlichen Gebote. Mit Sex hatte das gar nichts zu tun. Dass der Papst etwas gegen sexuelle Lust hat, ist falsch. Johannes Paul II.: »Die sexuelle Lust zu genießen, … darum geht es im Grunde der Sexualethik.« Allerdings war er mit dem modernen Feminismus der Auffassung, dass Frauen nicht als sexuelle Konsumobjekte für Männer missbraucht werden dürfen, sondern gleichberechtigten, partnerschaftlichen Respekt verdienen. Die Sex-muss-sein-Ideologie ist ja ohnehin ein Phantasieprodukt aus der Machoküche. Doch soll hier nicht behauptet werden, Katholiken seien der Meinung, ohne praktizierte Sexualität könne man nicht in den Himmel kommen. Auch der unverklemmte Verzicht auf Sexualität, zum Beispiel beim Zölibat, kann Teil einer kraftvollen Lebensgestaltung sein.
Während also auf dem Esoterikregal der Buchhandlungen die spirituelle Aufladung der Sexualität mit Methoden propagiert wird, die Herr Dr. Müller aus Castrop-Rauxel in Asien adaptiert hat, könnte es interessanter sein, die reiche spirituelle Literatur zu entdecken, die in vielen Jahrhunderten katholische Mystiker verfasst haben. Was da zum Beispiel bei der heiligen Teresa von Avila an wirklich ganzheitlichen Erfahrungen, die Körper und Geist erregen, vermittelt wird, ist noch weit aufregender als die Kräuterlehre der heiligen Hildegard von Bingen. Dass über erotische Erfahrung sogar Gotteserfahrung möglich ist, ist nicht etwa blasphemisch, sondern ohne weiteres katholisch. Denn, wie gesagt, Katholiken gehen davon aus, dass der liebe Gott sich doch nicht so viel Mühe mit der Erfindung der Sexualität gemacht haben wird, wenn sie nicht zu irgendetwas gut sein sollte – und das höchste Gut ist, wie wir schon wissen, nicht etwa die Gesundheit, sondern aus religiöser Sicht Gott. Sexualität ist viel zu schade, um bloß gesund zu sein.
Die weltumspannende Gesundheitsreligion führt nach dem bisherigen Befund mit ihrer Vorstellung von der Herstellbarkeit des angeblich höchsten Guts über Fitness, Wellness, Schönheitsproduktion und Sexindustrie zu einem übermächtigen Wirtschaftsgetriebe, nur nicht zu einem: zu Lebenslust.
c) An zu viel Gesundheit kann man sterben – lästige Nebenwirkungen, tödliche Risiken
In letzter Zeit werden aber Risiken und Nebenwirkungen des ganzen Trubels deutlich, die buchstäblich lebensgefährlich sind. Die Vorstellung, dass Lebensglück und Lebenslust mit bestimmten herstellbaren Qualitäten – gesund, schön, sexuell befriedigt – identisch sind, hat zur Folge, dass selbstverständlich wie bei allen herstellbaren Produkten eine gewisse Qualitätssicherung plausibel erscheint. Man mag es hin und her wenden, wie man will: Wenn das Ergebnis nicht befriedigt, hat der betreffende Mensch nicht bloß einzelne mindere Qualitäten. Angesichts eines aus wirtschaftlichen Gründen hochgepuschten utopischen Gesundheits-, Schönheits- und Sexualitätsideals muss dieser Mensch vielmehr den Eindruck gewinnen, dass er als Ganzer von minderer Qualität ist. Und wenn die Würde des Menschen, wie manche propagieren, aus seinem Wert besteht, ist es bei einem Menschen minderer Qualität auch mit der Würde nicht mehr weit her. Um jemandem also ein in diesem Sinne würdeloses Leben zu ersparen, fügt man zurzeit den Schlussstein in die Gesundheitskathedrale ein: Wer definitiv nicht gesund, nicht schön oder sexuell nicht befriedigt ist, dem feiert die Gesundheitsreligion noch ein sorgfältig inszeniertes Requiem. Mit den gleichen medizinischen Mitteln, mit denen man vergeblich ewige Gesundheit herzustellen versprach, ermöglicht man jetzt wenigstens den ewigen Abschied vom Leben. Euthanasie nennt man das, den »guten Tod« geben. Die Niederländer, die das gesetzlich ermöglicht haben, legen zumeist großen Wert darauf, das als Fortschritt zu bezeichnen. Wenn man auf dem Weg in eine Sackgasse einen Schritt weitergeht und definitiv vor die Wand
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