Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Ausstrahlung der kaffeebraunen Schönheiten berühmt. Demgegenüber wurden Dänemark und Schweden nicht für kultivierte Erotik, sondern eher für vermarktbare Hüllenlosigkeit bekannt. Pralle Sinnlichkeit prägt katholische Barockkirchen: Nacktheit, wohin das Auge reicht, und es handelt sich dabei nicht um Badezimmer. Da wird immerhin Gottesdienst gefeiert. Dass die Weisheit dieser ältesten Großinstitution der Welt die heutigen Erkenntnisse von Sexualwissenschaft und Paartherapie früher schon beachtet hat, ist allerdings so verwunderlich nicht. Institutionen mit einer verkorksten Sicht von Sexualität sterben aus biologischen Gründen in der Regel ziemlich jung. Kurz gesagt, Sexualfeinde wurden immer wieder konsequent aus dieser Religionsgemeinschaft ausgeschlossen.
Freilich ist dann umso erklärungsbedürftiger, warum sich das Bild im 19. Jahrhundert so dramatisch änderte. Das hatte damit zu tun, dass mit dem Beginn dieses Jahrhunderts der Katholizismus als europäische Leitkultur abdankte und eine protestantisch-bürgerliche Mentalität die Herrschaft übernahm. Die Dekolletés rutschten nach oben und verschwanden gänzlich, die Frau hatte keinen Körper mehr zu haben, wurde zu Haus, Herd und Kindern gesperrt und die so genannten ehelichen Pflichten waren: »nüchterne Kindererzeugung«, wie man in einer erstaunlichen Verkennung der physiologischen Gegebenheiten forderte. Liebe und Sex mussten streng getrennt werden. Katholische barocke Sinnlichkeit galt bestenfalls als ordinär. Wer als damals in der Regel gesellschaftlich unterdrückter Katholik wenigstens etwas »in« sein wollte, dem blieb nichts anderes übrig, als auch ein bisschen verklemmt zu werden, denn Verklemmtsein galt als schick. So stieg auch noch die heutige katholische Großelterngeneration zusammen mit der protestantischen Großelterngeneration in gemeinsamer ökumenischer Bigotterie voll bekleidet in die Badewanne, da man den schrecklich gefährlichen Körper noch nicht einmal sehen sollte. Dass die Prüderie der Nierentischgeneration in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts konfessionsübergreifend auch Katholiken mit einbezog, wird niemand bestreiten. Das katholische Lehramt hat sich an solchem Unsinn interessanterweise nicht beteiligt. Allerdings war das übrige kirchliche Bodenpersonal solchem Zeitgeist gegenüber nicht immer allzu widerständig. Die bürgerliche Körperfeindlichkeit trieb die Lust in den Untergrund. Das war die Geburtsstunde der modernen Pornoindustrie. Von dieser ganzen Perversion der Sexualität haben sich die westlichen Gesellschaften immer noch nicht erholt.
Die kitschige Schwüle vom schmachtenden viktorianischen Liebesroman über die züchtigen Geschichten der »Gartenlaube« bis zu den Ergüssen von Hedwig Courths-Mahler speiste sich aus der verschämten Überzeugung: Liebe ist viel zu schön für Sexualität. Diese Überzeugung gilt heute ungebrochen, allerdings in der Variante, dass Sexualität viel zu schön ist für die Liebe. Wie die modernen Hochgeschwindigkeitszüge eine technische Weiterentwicklung der guten alten Eisenbahn des 19. Jahrhunderts darstellen, so hat die technische Trennung von Sexualität, Liebe und Kinderkriegen vor allem durch die »Pille« die Sehnsucht des 19. Jahrhunderts, Liebe und Sexualität fein säuberlich auseinander zu halten, zur letzten technischen Perfektion getrieben und den Sexualfrust produziert, der heute allgemein beklagt wird.
Demgegenüber vertrat die ziemlich lebenslustige katholische Tradition einen ganzheitlichen Ansatz der Sexualität, der sexuelle Lust, personale Liebe und Vitalität, das heißt Offenheit auf Kinder, zusammensah. Dass die technische Trennung dieser drei Elemente im handlichen Einzelpack als Mehrwegprodukte die natürliche Lebenslust einschränke, das war ein Grund für die katholischen Bedenken gegen die künstliche Empfängnisverhütung. Die entsprechenden oft zitierten kirchlichen Streitschriften stellen erstaunlicherweise einen Lobgesang auf die Schönheiten der Sexualität dar. Dass im Übrigen die Verletzbarkeit des Menschen bei wohlgemerkt wirklich lustvoll gelebter Sexualität ihren Schutz durch eine beständige Partnerschaft sinnvoll erscheinen lässt, ist keine katholische Speziallehre, sondern schlicht Stand heutiger Paartherapie. Und bei allen Problemen, die Kinder machen: Man kann wohl nicht bestreiten, dass kinderreiche Familien im Durchschnitt lebenslustiger wirken als durchgestylte Zweierarrangements aus dem
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