Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
läuft, ist das gewiss ein Fortschritt, und solange der lärmende und umtriebige Gesundheitstross weit hinter den Niederländern mit unvermindertem Tempo in die gleiche Sackgasse läuft, kann ihnen eigentlich niemand bestreiten, dass sie in der Tat an der Spitze eines solchen Fortschritts stehen. Professor Julius Hackethal, der öffentlichkeitsverliebte Gründervater der neueren deutschen Euthanasiebewegung, hat Menschen, die nach seiner Meinung nicht mehr gesund werden konnten, auf Wunsch getötet. Eine Frau, deren Gesicht krankheitsbedingt entstellt, also nicht schön war, hat er ebenfalls ins Jenseits befördert, und für sich selbst erklärte er öffentlich, dass er sich bei eingetretener Impotenz umbringen würde. Da hat man sie sogar vollständig, die tödliche Schattenseite des Gesundheits-, Schönheits- und Sexualitätsideals. Hackethal, das war der Showdown des Gesundheitskults. Das oben genannte Argument für die Gesundheit als Voraussetzung der Lebenslust kehrt sich an dieser Stelle auf makabere Weise um: Für Tote ist Lebenslust kein Thema mehr.
Gewiss, liebe Leser, die meisten von Ihnen werden denken, dass sie sich noch einigermaßen gesund fühlen, nicht allzu hässlich, und sexuell können sie auch nicht klagen. Aber wer spricht denn eigentlich von ihrer Meinung? In den Niederlanden werden inzwischen jährlich nachweislich mehr als 250 Menschen umgebracht, ohne dass sie zugestimmt haben, obwohl sie bei Bewusstsein waren. Eine Kommission ist zuständig. Man will offensichtlich manchen leidenden Menschen nicht noch die Mühe einer solchen Entscheidung machen. Man nimmt sie ihnen ab. Wo die Grenzen liegen, entscheidet die Kommission. Wie gesund, wie schön, wie sexuell befriedigt wird man demnächst sein müssen, um nicht dem Mitgefühl einer solchen Kommission zum Opfer zu fallen? Die Frage: »Wie geht es Ihnen?«, sollte man in den Niederlanden sicherheitshalber möglichst immer mit kräftiger Stimme, strahlendem Gesicht und lustvollem Lächeln beantworten: »Blendend!« Das ist dann noch nicht mal gelogen.
Obwohl die Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheit also buchstäblich tödlich sind, lieben die Menschen offensichtlich das Risiko. Man fährt schließlich auch weiter Formel-1-Rennen. Ab und zu betrauert man die Opfer und dann geht es munter weiter. Was alle mitmachen, kann ja nicht so ganz falsch sein. Die Gesundheit ist unbestritten, weil blasphemiegeschützt, ein geradezu magisches letztes Ziel. Nur so ist es zu erklären, dass es Menschen gibt, die geradezu ihr ganzes Leben für die Gesundheit opfern. Sie leben nur noch vorbeugend. Nicht nur der Himmel, auch das Leben selbst kann warten. So wird wie bei jeder anständigen anderen Religion das gesamte Leben von der Gesundheitsreligion beansprucht und mit religiösen Riten ausgestattet. Des Morgens wacht man unter irgendwelchen natürlichen Gesichtsmasken auf, die über Nacht der Haut die nötige Feuchtigkeit zukommen ließen. Dann wartet das Vollkostfrühstück mit Knäckebrot und anderen Köstlichkeiten, der Tag beginnt dynamisch, biologisch dynamisch. Anschließend Aerobic nach Fernsehvorbild. Dann ziemlich weite Fahrt im Auto zum nächsten Naturkostladen mit Produkten aus ökologischem Anbau und wieder zurück. Für gesunde Kost muss schon ein gewisser Benzinverbrauch in Kauf genommen werden. Sorgfältige Vorbereitung eines eher gesunden als wohlschmeckenden Mittagessens. Danach Mittagsschlaf, kein normaler Schlaf, sondern natürlich ein Gesundheitsschlaf. Gleich darauf auf den Trimm-dich-Pfad. Gesundes Abendessen. Danach gab es früher ein schwer lösbares Problem: Was macht der Gesundheitsgläubige abends? Doch seit Einführung der privaten Fernsehsender ist dieses Problem ultimativ gelöst. Jeden Abend gibt es inzwischen in irgendeinem Sender ein Gesundheitsmagazin. Da kann man zuverlässig erfahren, dass man sich ganz unberechtigterweise seit Jahren gesund fühlt, in Wirklichkeit aber zu wenig beachtet hat, dass die Haut, der Darm, das Herz, der Hals … Am nächsten Tag sind die Wartezimmer der entsprechenden Fachärzte voller neuer Kranker. Auf diese Weise produziert der Gesundheitsbetrieb seine eigenen Patienten.
3. Im Heiligtum – Inszenierungen
Damit überschreiten wir sachte und medienbegleitet die Schwelle der vorbeugenden Gesundheitssorge, nämlich der Fitness- und Wellnessbewegung, der Schönheitspflege, der Sexualhygiene und der sorgfältigen Ernährung, treten also von den rituellen Waschungen im Vorhof des Tempels ins
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