Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
eigentliche Heiligtum des Gesundheitskults, den Krankheitsapparat. Doch noch nicht sofort. Während die Krankenkassen sich früher auf den Krankheitsapparat beschränkten und die Vorsorge den Menschen selbst überließen, ist diese Grenze längst gefallen. Trotz der häufig beschworenen Finanzknappheit sind die Kassen inzwischen ins Fitnessgeschäft eingestiegen. Das klingt zunächst recht vernünftig nach dem Motto: Vorbeugen ist besser als Bohren. Doch in Wirklichkeit geschieht hier etwas, was typisch ist für junge Religionen, denen die gelassene Abgeklärtheit der alten noch fremd ist: Die grenzenlose Begeisterung nimmt bei den Anhängern schnell das ganze Leben unbeschränkt ergreifende, totalitäre Züge an. Und so schicken sich die Krankenkassen an, über ein Bonus- und Malussystem bestimmenden Einfluss auf die Lebensführung der Menschen zu erhalten. Wie stellt man auf Dauer aber sicher, dass der Beitragszahler korrekte Angaben macht? Wer will sagen, ob jemand wirklich geraucht hat oder nicht, Alkohol zu sich genommen hat oder nicht, sein Pflichtpensum an Gesundheitsriten absolviert hat oder nicht? Die Methode der katholischen Kirche war da die Inquisition, die vor allem mit Fragen arbeitete (inquirere = fragen). Die heftigere Variante war der Blockwart in totalitären Regimen, der das Leben der Hausbewohner sorgfältig kontrollierte und regimefeindliche Umtriebe umgehend meldete. Keine Frage, die Perfektionierung der Gesundheitsreligion läuft auf Blockwarte hinaus. Ungesundes Verhalten wird irgendwann meldepflichtig, die oben beschriebenen gesundheitsfördernden Maßnahmen werden dann nicht mehr als persönliche Lebensstile frei gewählt, sondern zu staatsbürgerlichen Pflichten, die Gesundheitsreligion wird Staatsreligion. Die hoheitliche Aufgabe der Kontrolle eines gesunden Lebenswandels wird an die Krankenkassen übertragen.
a) Lachen ist nicht lustig – sondern gesund
Eine Krankenkasse nennt sich vorsichtshalber schon Gesundheitskasse, womit sie den Anspruch anmeldet, nicht nur für Krankheiten, sondern auch für die Gesundheit zuständig zu sein. Als ich neulich dort anrief, meldete sich eine freundliche Stimme: »Hier ist die Gesundheitskasse.« Auf meine höfliche Bitte hin, doch mit der Krankenkasse verbunden zu werden, denn um die Gesundheit würde ich mich schon selber kümmern, erntete ich ziemliches Unverständnis. Ich hatte übersehen, dass bei der Gesundheitsreligion strenges Humorverbot herrscht. Die Einführung eines Karnevals, wo sogar im päpstlichen Rom die kirchlichen Üblichkeiten auf die Schippe genommen werden konnten, wäre für die Gesundheitsreligion undenkbar – oder vielleicht doch nicht? Kürzlich machte ich Bekanntschaft mit einer Literatur, die nachweist, dass Lachen gesund ist, und die daher Methoden anpreist, das Lachen zu lernen. In Großstädten gibt es so genannte Lachgruppen, die sich wegen der positiven gesundheitlichen Wirkungen des Lachens regelmäßig zu kleinen Gesundheitsandachten treffen. Ich war erschüttert. Da lobt man sich doch die handfesten Klageweiber, die bei den Altreligionen für bestimmte Anlässe zeitlich streng begrenzt zum Einsatz kamen. Stellen Sie sich doch bitte vor, Sie begegnen jemandem, der aus Gesundheitsgründen absichtlich und gut geschult lacht. Zum Herzerbarmen! Die staatliche Anordnung einer pseudokarnevalistischen Gesundheits-Lachzeit und Versammlungen von bekannten und gekonnten Lachern – da bliebe nur noch Auswandern!
b) Das Krankenhaus – die Kathedrale des 20. Jahrhunderts
Bleiben wir vorerst noch im Lande, aber verlassen nun endlich den Vorhof des Heiligtums und betreten den heiligen Bezirk der Gesundheitsreligion, das Krankenhaus. Krankenhäuser sind die Kathedralen des 20. Jahrhunderts. Die großen architektonischen Leistungen im christgläubigen 18. Jahrhundert waren noch die Kirchen, im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert waren es die Bahnhöfe und im gesundheitsgläubigen 20. Jahrhundert schließlich die Krankenhäuser. Schon in kleinen Städten wird der Kirchturm fast regelmäßig vom örtlichen Krankenhaus weit überragt. Die spektakulärsten Bauvorhaben sind international die großen Krankenhäuser. Gigantische Formen erreichte der Bau des Aachener Klinikums. Dieses Riesengebilde nimmt in der Gesundheitsreligion sozusagen die Stelle des Petersdoms ein. In gewisser Weise entwickeln derartige Gesundheitsbauten eine eigene Theologie.
Ein besonders tiefsinniger und faszinierender Aspekt der gotischen
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