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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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Kathedralen zeigt sich in den von überirdischem Licht durchfluteten Chorräumen dieser Gotteshäuser. Die raffinierte Baukunst des hohen Mittelalters ermöglichte es, zwischen den hauchdünnen Wänden riesige Glasflächen mit prachtvollen Glasmalereien auszustatten. Das tauchte den Raum in ein ergreifendes mystisches Licht. Dennoch geben diese Höchstleistungen der Kunst auf den ersten Blick ein Rätsel auf. Was wir heute mit Hilfe des Fernglases atemlos bewundern, diese bis ins letzte Detail in einer äußerst differenzierten Farbigkeit geschaffenen heiligen Geschichten – konnte im Mittelalter niemand sehen. Und man rechnete auch mit Sicherheit damit, dass das für immer so bleiben würde. Warum dann diese Kunst, warum dann diese Verschwendung von Phantasie und Schaffenskraft an Abbildungen, die niemand jemals würde sehen können? Die Antwort war für den mittelalterlichen Menschen ganz einfach. Seine Schöpfungen schuf er nicht zu eigenem Ruhm – wir kennen kaum Künstlernamen aus dem Mittelalter –, nicht zunächst und vor allem für die Betrachtung durch Menschen, sondern zur größeren Ehre Gottes. Wie gegenwärtig musste diesen Menschen das Jenseits sein, dass sie nicht bloß darüber schwätzten, sondern ihm Raum im eigenen Leben schufen! Und das ist ganz wörtlich zu nehmen. Der tiefe Glaube der Schöpfer dieser gewaltigen Kunstwerke führte dazu, dass sie, was kaum möglich erscheint, das Jenseits, an das sie fest glaubten, dem Betrachter buchstäblich zeigten. Eine wirklich hinreißende Vorstellung. Der Betrachter, der im Mittelalter nie bloß ein steriler Betrachter war, sondern selbst ein Gläubiger, betrat das Gotteshaus durch ein Portal, das das Weltgericht abbildete und das ihn an die Vergänglichkeit seiner Existenz erinnerte. Er schritt, als kleiner Mensch, ergriffen von der mächtigen Größe des Gotteshauses, das Mittelschiff entlang, wo er die großen Gestalten des Glaubens dargestellt sah, nahm in den unteren Fenstern die ihm vertrauten heiligen Geschichten der Bibel wahr, die er selbst zumeist nicht lesen konnte. Dann wohnte er dem Hochamt bei, das fern am Hochaltar zelebriert wurde und bei dem, wie er fest glaubte, Jesus Christus, der Sohn Gottes, wirklich gegenwärtig wurde. Und während er da kniete, erhob sich sein Blick in den himmelstürmenden Chor der Kathedrale zu den Fenstern, die, wie er annehmen musste, wahrscheinlich ähnliche Geschichten zeigten wie die Fenster, die er unten gesehen hatte. Aber was ihn interessierte, waren nicht die Fenster, es war der Raum dort oben vor diesen Fenstern. Von dort aus musste man die Herrlichkeiten der Fenster betrachten, von diesem Raum aus in der seligen Schau dieses mystischen Lichts verharren können, ganz erfüllt von dem Erlebnis. Doch in dieser Welt war ein solcher Gedanke absurd. Niemand würde jemals aus der Tiefe der Kathedrale hoch in jene Sphären schweben können. Der damalige Betrachter sah also einen wahrhaft herrlichen Raum, den es ohne jeden Zweifel real gab, er sah ganz wirklich, dass es ihn gab, und er wusste genauso sicher, dass er ihn in diesem Leben niemals würde betreten können. Aber er hoffte dennoch mit allen Sinnen, dass er in einen solchen herrlichen und wirklichen Raum gelangen würde, nämlich ins Paradies. Der Chor der gotischen Kathedrale war ein Abbild des Himmels, keine einfach hingemalte Phantasie, sondern ein bis zur äußersten Sinnlichkeit getriebenes, wirkungsmächtiges gegenwärtiges Bild des Jenseits.
    So weit die Kraft der Altreligion. Ich muss den Leser um Entschuldigung bitten, dass die Analogie bei der Gesundheitsreligion erheblich prosaischer ausfällt. Doch die Parallelen sind unübersehbar. Auch beim Betreten des mächtigen Aachener Klinikums fühlt sich der Gesundheitsgläubige klein und winzig. Nicht bloß am Eingang wird man beständig an die Vergänglichkeit menschlicher Existenz erinnert, allerdings eher indirekt. Und der erste Eindruck ist der der Unübersichtlichkeit. Labyrinthisch wirkt das Ganze. Und das Labyrinth ist ein uraltes religiöses Symbol. Die griechische Mythologie erzählt die Geschichte vom Menschen fressenden Minotauros, der auf Kreta in einem solchen vom Urarchitekten Daidalos ersonnenen Labyrinth gehalten wurde. Das Tröstliche an dem Labyrinth war, dass der schreckliche Minotauros nicht herauskam, das Unheimliche war, dass jeder, der hineinging, niemals wieder den Weg hinaus fand und irgendwann vom Minotauros gefressen wurde. Erst Theseus gelang es dann mit Hilfe des

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