Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Vor allem die Wissenschaftstheorie und die Therapieeffizienzforschung haben eine Atmosphäre der Nüchternheit und der respektvollen Kooperation zwischen den Schulen eintreten lassen. Diese Ernüchterung hat das erfreuliche Ergebnis, dass man Psychotherapie in Fachkreisen wieder mehr als eine Technik betrachtet, die manchmal hilft und selten auch schadet. Das ist für eine Behandlungsform, die nicht beansprucht, das Glück des Lebens zu produzieren, gar kein schlechtes Ergebnis. Denn auch hier gilt der alte pharmakologische Grundsatz: Eine Therapie, die keine Nebenwirkungen haben kann, hat mutmaßlich auch keine Wirkungen.
Doch die Öffentlichkeit verweigert sich dieser Entzauberung der Psychowelt und nimmt den Sturz der Götter nicht wahr. So leicht lässt man sie sich nicht nehmen, seine Ikonen des Glücks. Im psychogläubigen Volk herrscht nach wie vor glutvoller Psychokult bis hin zu sektiererischem Fanatismus. Das heißt aber, dass der Psychomarkt immer noch boomt. Und wenn die Kundschaft das will, zögert man nicht, psychologische Handwerkstechniken als Wahrheitslehren zu verkaufen – und das durchaus im wörtlichen Sinne. Denn wo die Nachfrage ungebrochen ist, da stellt sich in einer Marktgesellschaft das Angebot darauf ein. Im Hintergrund der pseudoreligiösen Psycho-Betriebsamkeit reibt sich der alte Karl Marx schadenfroh die Hände, der seine ansonsten obsolete Basis-Überbau-Theorie hier bestätigt findet. Hinter manchem künstlichen Schlachtenlärm zwischen den Therapierichtungen, die vordergründig ergebnislos um die Wahrheit streiten, stehen nämlich oft erhebliche materielle Interessen.
2. Das Genomprojekt des 19. Jahrhunderts
Doch die Häme von Karl Marx, geboren im 19. Jahrhundert in Trier, gegenüber einer Psychologie, die ihre Ursprünge bei Sigmund Freud, geboren im 19. Jahrhundert in Freiberg, hat, wäre ungerecht. Denn im Grunde sind sie in einer bestimmten Hinsicht Geschwister, die beiden. Das 19. Jahrhundert war fasziniert vom Geist des Determinismus: Alles hat Ursachen, so dachte man, und wenn man alle Ursachen kenne und alle Naturgesetze, dann könne man alles genau voraussehen. Es wäre das Ende der Tagesschau vor ihrer Erfindung, denn es gäbe nichts unabsehbar Neues mehr. Dazu müsste man natürlich alle Naturgesetze lückenlos kennen. Am Ende des Jahrhunderts wähnte sich Ernst Haeckel in seinem Buch »Die Welträtsel« mit ungestümem Optimismus kurz vor diesem Ziel, vor der Auflösung aller Rätsel. Der Determinismus war das Genomprojekt des 19. Jahrhunderts. Und sogar mehr als das: Es war seine Religion, seine Ersatzreligion.
An seinem Beginn stand ein großer Auftritt. Der weltbekannte Physiker Laplace erklärte dem Kaiser Napoleon das neueste naturwissenschaftliche Weltbild. Als er geendet hatte und voll stolzer Selbstgewissheit auf den Kaiser blickte, kam die Frage des damaligen Herrschers über fast ganz Europa: »Et Dieu?« (Und Gott?) Da baute er sich auf, der Physiker, vor dem Kaiser der Franzosen und erklärte mit großer romanischer Geste: »Dieu? Je n’ai plus besoin de cette hypothese!« (Gott? Ich brauche diese Hypothese nicht mehr!) Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt immer noch eine Hypothese, diese »Hypothese« nicht zu brauchen – ganz abgesehen davon, dass die These, der liebe Gott sei der Lückenbüßer für all das, was wir uns nicht erklären können, zu den schlichtesten Irrtümern über den Gottesglauben gehört. Jedenfalls schickte man den lieben Gott in Rente und bastelte sich stattdessen »wissenschaftliche Weltanschauungen«. So tönte der laute Marschschritt des wissenschaftlichen Fortschritts mit dem Pathos der Ersatzreligion durch das 19. Jahrhundert.
Es fing schon mit Volldampf an, nämlich mit den ersten Dampfmaschinen, die die Wirtschaft revolutionierten, mit der Eisenbahn, die den wissenschaftlichen Fortschritt mit dem Mittel des technischen Fortschritts für alle geradezu augenfällig machte, und mit dem industriellen Fortschritt, der sich den technischen Fortschritt des Homo faber zunutze machte, jedoch zu unabsehbaren sozialen Spannungen führte. Darauf antworteten Karl Marx und andere, indem sie soziologische und ökonomische Gesetzmäßigkeiten konstruierten, die allerdings vollständig im deterministischen Denken des Jahrhunderts verharrten. Dem Gesetzmäßigkeitsdenken der Physik fügten sie ein Gesetzmäßigkeitsdenken der Klassenkämpfe bis zur Weltrevolution hinzu. »Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit«, schöner
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