Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
Vom Netzwerk:
Gesundheitsbegriffs sind aber außerordentlich schwerwiegend. Denn wenn die utopischen Psycho-Gesundheits-Ziele wirklich geglaubt werden, dann produzieren sie ewige Patienten, die unendliche Therapien absolvieren müssen. Wer eine psychoanalytische Ausbildung hinter sich hat, ist ohne weiteres in der Lage, bei einem beliebigen glücklichen Menschen durch ein kurzes Gespräch über die frühe Kindheit eine kleine Depression herzustellen – egal wie die frühe Kindheit gelaufen ist. Er muss nur alles, was er hört, mit wichtigtuerisch bedenklicher Miene kommentieren. Ein verantwortlicher Psychoanalytiker wird das nicht tun, aber es gibt inzwischen genügend Hobbyanalytiker und manchmal reicht auch ein entsprechender marktschreierischer Zeitungsartikel im Psychojargon. So entstehen Patienten, und Patienten brauchen Therapie. Dass Therapie selbst aber nichts mit Lebenslust zu tun hat, sondern Arbeit ist, bestreiten noch nicht einmal die Gurus des Gewerbes. Damit freilich sind unendliche Therapien der umfassendste Anschlag auf die Lebenslust. Zumal es ein »Nach der Therapie«, in dem man vielleicht einmal probeweise leben könnte, dann überhaupt nicht gibt. Solche utopischen Projekte sind ein Missbrauch der Psychotherapie, wie ihn Christian Reimer an eindrucksvollen Beispielen belegt hat. Hier können oft lebenslange Abhängigkeiten entstehen. Denn der abschließende Erfolg des Ideals in der Wirklichkeit ist geradezu definitionsgemäß ausgeschlossen.
    Psychotheorien leisten heute angesichts der Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit der Welt für viele verunsicherte moderne Menschen die Komplexitätsreduktion, die der Soziologe Niklas Luhmann Institutionen zuweist. Doch Institutionen sind allenthalben in der Krise. Da kommen die Psychoideologien gerade recht. Solche Psychotheorien geben nicht nur Sicherheit, sie entwickeln, wie alle Ideologien, in sich eine gewisse Plausibilität, so dass ihre Vertreter oder Anhänger oft ein Hochgefühl des Einblicks ins Eigentliche gewinnen. Sie wähnen sich in Besitz eines Herrschaftswissens, das alles und jedes zu erklären scheint. Eugen Drewermann schreibt inzwischen mühelos dicke Bücher über alles, über die Mythologie in Ägypten und die Kirche in Ostwestfalen, über die Evolutionstheorie und über den Tierschutz, über den Krieg und natürlich über den Frieden. Die Wirklichkeit wird dabei hemmungslos beschimpft und das verkündete Ideal der Verehrung der Anhänger empfohlen. Denn die Wirklichkeit ist der Feind solcher ideologischer Theorien, so dass sie auch nicht lustfähig sind. Niemand ist in der Lage, einen Wein zu genießen, der auf dem Tisch stehen sollte, aber aus allen möglichen mehr oder weniger interessanten Gründen nun einmal da nicht steht.
    2. Kommen Sie mir bloß nicht mit der Wirklichkeit!
    So ein Treiben mag noch angehen, solange es um den Tierschutz geht. Aber wenn Menschen im Spiel sind, kann das durchaus einschneidende Risiken und Nebenwirkungen haben. Wenn man die Wirklichkeit der Menschen immer nur als defizient gegenüber dem Ideal beschreibt, dann ist eine solche Einstellung nicht nur eine wortreiche »Anleitung zum Unglücklichsein«. Sie nimmt den Menschen in seiner Wirklichkeit nicht ernst und unterstellt, dass der individuelle Mensch mit allen seinen Ecken und Kanten gegenüber dem Ideal die allenfalls zweitbeste Möglichkeit ist. Das ist auf subtile Weise im Wortsinne menschenverachtend. Denn jeder Mensch ist gerade mit seinen Ecken und Kanten einmalig und unwiederholbar. Und eine Diagnose, die den konkreten psychischen Zustand unter einen typisierenden Begriff fasst, ist eine Abstraktion von Wirklichkeit, die ausschließlich den Sinn hat, eine gute Therapie für einen Leidenszustand zu organisieren. Wer Diagnosen in herrscherlicher Manier ohne therapeutische Absicht auf Menschen überträgt, missbraucht dieses wichtige Hilfsmittel, um damit Menschen zu diskriminieren, indem er sie in Schubladen einsperrt.
    Inzwischen gibt es auch Typologien für den Hausgebrauch. Das so genannte Enneagramm teilt die ganze Menschheit in neun (griechisch: ennea) Typen ein. Auch manche Christen wissen das überlegene Gefühl zu schätzen, mit Hilfe des Enneagramms endlich die eigenartigen Reaktionen des Nachbarn richtig einschätzen zu können, da der ja ein »Sechser« ist. Was so ganz harmlos daherkommt, ist aber ebenfalls nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Richard Rohr, ein amerikanischer Franziskaner, der das Enneagramm populär gemacht hat, meint

Weitere Kostenlose Bücher