Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Vater seiner Kinder, nicht Sohn seiner Eltern, nicht Mann seiner Frau, nicht Vorgesetzter seiner Untergebenen, nicht Untergebener seiner Vorgesetzten, nicht Nachbar, nicht Freund, nicht Staatsbürger oder wie die vielen Rollen auch heißen mögen, in die man ganz selbstverständlich hineingerät. Im Kult ist der Mensch nur er selbst – vor Gott. Und er verbringt da eine unwiederholbare Zeit seines Lebens vor Gott. Das ist in sich sinnvoll. Alles andere auf der Welt mag zu einem Zweck existieren, der Mensch ist um seiner selbst willen da. Er hat keinen Zweck. Er ist. Und das begeht er, ja das feiert er im Kult.
Daher ist es ein Missverständnis, den Gottesdienst im Wesentlichen nach der Qualität der Predigt, der Perfektion des Gesangs oder dem Abwechslungsreichtum des gebotenen Entertainments zu bewerten. Bildungsergiebigere Vorträge kann man anderweitig hören, für gute Musik muss man sich nicht sonntags morgens aus dem Bett quälen und für kurzweiliges Entertainment ist das Fernsehen besser geeignet. Es mag zwar Gottesdienstleiter geben, die meinen, da in Konkurrenz treten zu müssen. Aber seien Sie versichert, alle Gottesdienste neigen diesbezüglich zur Zweitklassigkeit und intensive Bemühung um Erstklassigkeit ist noch erheblich lästiger als Zweitklassigkeit. Gottesdienste sind nicht unterhaltsam. Der Gottesdienstbesuch nützt in der Regel nicht der Bildung, er schafft keine neuen interessanten Kontakte, er erhöht nicht das Bruttosozialprodukt. In den Gottesdienst geht man keinem dieser Zwecke zuliebe. Im Gottesdienst steht man völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll wenigstens diese eine unwiederholbare Stunde von 168 Wochenstunden vor Gott und wird hingerissen aus der Enge alltäglicher Betriebsamkeit in die Mitte der Welt. Schon Platon sagte, »im festlichen Umgang mit den Göttern« gewinne der Mensch seine wahre, aufrechte Gestalt zurück.
Was die Zweckfreiheit betrifft, kann man mit dem Kult allenfalls das Spiel vergleichen. Nicht das Wettspiel, wo es Sieger und Besiegte gibt und das bloß unsere Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft abbildet. Vielmehr das Spiel, auf das sich vor allem Kinder verstehen, das keinen Siegeszweck erfüllt, sondern in sich sinnvoll ist. Das Spiel hat auch ganz ursprünglich eine direkte Verbindung mit dem Kult. Die Olympischen Spiele waren Kultveranstaltungen am Ort des Zeus von Olympia. Nicht allein um den Sieg ging es da, sondern die Sterblichen aus ganz Griechenland verbrachten eine gewisse Zeit in Olympia und spielten zweckfrei, aber höchst sinnvoll vor den unsterblichen Göttern am heiligen Hain. Heiliges Spiel hat man übrigens auch die heilige Messe genannt.
Die Olympischen Spiele waren eine sakrale Feier und zugleich ein weltliches Fest. Auch das Fest und die Feier entstammen dem Kult. Ein guter Gottesdienst sollte ein Fest sein und noch heute erinnern deftige Kirchweihfeste an beste Traditionen. Auch richtige Feste und Feiern sind zwecklos, aber höchst sinnvoll. Wer feiert, um sich zu erholen, oder bloß auf ein Fest geht, um wichtige Kontakte zu knüpfen, der kann nicht feiern und stört das Fest. Gewiss sollte man jetzt nicht gleich strenge Regeln für korrektes Festefeiern erlassen. Aber eines ist sicher: Ein richtig schönes Fest erfüllt dann seinen Zweck, wenn es richtig schön zwecklos ist. Sonst ist es eher eine Kommunikationsförderungsveranstaltung mit strenger Kleiderordnung und kurzen Wortbeiträgen, Small Talk genannt. Diplomaten können ein Lied davon singen, wie anstrengend solche »Cocktails« sind. Da muss man dann irgendwelche Nationalfeiertage feiern. Allerdings wäre es wohl richtiger zu sagen, man begeht diese Feiertage. Denn man geht hin, geht da ein wenig herum und geht dann wieder weg. Das ist Arbeit. Mit Feiern hat das nichts zu tun. Ganz anders richtiges Festefeiern. Da ist Lebenslust angesagt. Der Sinn des Festes ist die Zustimmung zur Welt. Übrigens erinnert der schöne Ausdruck Feierabend daran, was man eigentlich in dieser Zeit tun könnte.
Muße und Kult seien Voraussetzung für Kultur überhaupt, sagt Josef Pieper. Alle Kunst ist zwecklos, aber höchst sinnvoll. Und die rechte Haltung, sie wahrzunehmen, ist nicht, irgendwelches Wissen darüber zu speichern – das mag vielleicht ein bisschen hilfreich sein –, sondern sich von ihr ergreifen zu lassen in einer Atmosphäre gelassener Muße.
II. Über die Sinnlichkeit der Ewigkeit
Nehmen wir an, ich könnte Ihnen, lieber Leser, jetzt im Moment sagen, an welchem Tag
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