Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Buch?« – »Nein, ich sitze.« – »Willst du nicht mit dem Hund rausgehen?« – »Nein, ich möchte hier sitzen.«
Noch viel länger zieht sich dieser von Loriot erfundene Dialog hin, und wenn man ihn mit Ehepaaren sieht, lacht immer nur die Hälfte des Publikums. Denn weder die Rollenverteilung noch das Thema sind selten. Einfach dazusitzen und nichts zu tun, das gilt als nahezu unanständig. Nichts wirkt so provozierend, wie – nichts zu tun. Selbst wenn der Mann etwas ganz Sinnloses machen würde, könnte er den Fragedurst seiner Frau wohl beruhigen. Aber bloß zu sitzen, das ist eben nichts! Schon in der Erziehung hat jeder gelernt: Müßiggang ist aller Laster Anfang.
Da waren die alten Griechen ganz anderer Meinung. Während wir uns erholen, um zu arbeiten, erklärte Aristoteles kategorisch: »Wir arbeiten, um Muße zu haben.« Mit Freizeit hatte Muße also nichts zu tun. Bei den Griechen hätte es sicher keinen Arbeitsminister, sondern einen Minister für Muße und zwecklose Tätigkeiten gegeben. Allerdings nur in einer politischen Ordnung, die die Würde des Menschen respektiert. Der Tyrann verhindert die Muße, sagt Aristoteles. Nicht um die Arbeit, um die Muße dreht sich bei den Griechen alles. »Scholia« heißt Muße. Arbeit heißt »Ascholia«: Nicht-Muße. Auch die Römer haben das übernommen. »Otium« war bei ihnen die Muße, »Negotium« (Nicht-Muße) war die Arbeit, waren die Geschäfte. Das scheint nun tatsächlich eine verkehrte Welt zu sein. Nicht dass man irgendwo saß und nichts Produktives tat, war da erklärungsbedürftig, sondern dass man arbeitete. Man soll nicht verschweigen, dass Sklaven eine solche Muße-Gesellschaft praktisch möglich machten. Aber das erklärt keineswegs die Wertschätzung der Muße. Ein Erlebnisurlaub, bei dem keine Tätigkeiten angeboten würden, würde heute mutmaßlich zu Regressforderungen führen. »Wir waren im Urlaub und haben nichts erlebt!« Die Griechen hielten dieses »Nichts« selbst für ein Erlebnis, geradezu für das Erlebnis schlechthin. Mit Faulheit ist Muße daher auch nicht richtig übersetzt. Natürlich gibt es einige mutige Zeitgenossen, die im Urlaub faulenzen. Hört man näher hin, hat dieses Faulenzen dann aber entweder doch einen Zweck, nämlich Erholung, Alternativsein, Geldsparen, oder es ist rein passives Die-Zeit-Totschlagen – also die reine Barbarei für die Griechen.
Denn den Griechen ist die Muße unendlich kostbar. Sie ist der Ort für das Erlebnis von Glück, Heil und Sinn des Lebens schlechthin. Wenn ein Volk, das so viel Sinn für Lebenslust entwickelt hat, die Muße so außerordentlich verehrt, dann wird es hier ganz spannend für unser Projekt »Lebenslust«. Was also ist Muße?
Die Muße ist zwecklos, aber höchst sinnvoll verbrachte Zeit. Es ist die Zeit, in der wir wir selbst sein können, wo wir keine Rolle spielen müssen, nichts Produktives herstellen müssen und die unwiederholbare Zeit unseres Lebens intensiv erleben können. Muße hat nichts mit Langeweile zu tun, doch bedeutet Fähigkeit zur Muße auch, einmal eine gewisse Langeweile gelassen aushalten zu können. Aber Muße ist keine einfach nur passive Zeit. Vielmehr sind alle Sinne wach und gelassen aufnahmebereit für das Schöne der Welt. Die Gedanken schweifen erfinderisch, aber lustvoll ziellos dahin. Philosophische Gespräche erfreuen den Geist, aber auch gebildete Konversation über Gott und die Welt – ohne jeden Zweck des Bildungsbeweises oder der Weltbeglückung. Solche Mußezeit hat gewiss auch Ergebnisse, aber absichtslose und dadurch vielleicht kreativere. Muße ist die Zeit von Erkenntnis ohne Interesse. In solchen Momenten kann es geschehen, so sagten die Alten, dass das Göttliche den Menschen berührt. Und vor nichts und niemandem muss man sich dafür rechtfertigen, wie man diese Zeit verbracht hat. Mit anderen Worten: Es ist eine Zeit – in der loriotsche Frauenstimmen keine Fragen aus der Küche stellen.
3. Zweckloser Kult
Die Muße ist von niemandem erfunden worden. Der bedeutende Philosoph Josef Pieper hat darauf hingewiesen, dass sie dem Kult entstammt. Der Kult ist wie die Muße zwecklos, aber höchst sinnvoll. Der religiöse Kult ist von seinem Wesen her die Feier des Verhältnisses der Menschen zu Gott. Dieses Verhältnis muss man nicht herstellen, es ist. Und dass es ist, das wird im Kult begangen. Der Mensch, der im Kult vor Gott steht, entledigt sich aller seiner Rollen, die ihn sonst umtreiben. Er ist im Kult nicht
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