Lebenssonden: Roman (German Edition)
»Laden«, die sie in den Bann zog – und ganz besonders in Zeiten der Krise.
»Bereit für die heutige Schlacht, Agusta?«
Die weiche Stimme ertönte dicht neben ihr und riss sie aus ihren Träumereien. Sie drehte sich um und sah, wie Seji Furosawa seine Arbeitsunterlagen akkurat neben ihrem rechten Ellbogen arrangierte.
»Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Sie Platz genommen haben, Seji.«
»Nun, Sie schienen auch sehr beschäftigt.«
Sie lachte. »Eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne soll eins der ersten Anzeichen von Senilität sein. Vielleicht werde ich allmählich zu alt für diesen Stress.«
»Sie werden uns noch alle überleben, Agusta.«
»Wissen Sie, was ich gerade tue? Ich lasse die Aura des Raums auf mich wirken. Spüren Sie es auch? Eine Art alles überlagernder, schwerer Geruch?«
Furosawa sog ostentativ die Luft ein. »Ich rieche aber nichts.«
Mrs. Meriweather lachte glucksend. »Sie sollen auch nicht mit der Nase riechen, Seji, sondern mit dem Herzen. Es ist der Geruch der Geschichte, die gemacht wird – als ob der Geist jedes Schurken, Wichtigtuers und Gauners, der jemals hier gesessen hat, zurückgekehrt ist, um die Show zu beobachten.« Mrs. Meriweather schaute auf ihre eigenen Unterlagen und sortierte sie eilig für die bevorstehende Debatte. Sollte sie den betroffenen Blick ihres Kollegen bemerkt haben, erwähnte sie es zumindest nicht. »Wenigstens haben wir gleich die Präliminarien hinter uns.«
Furosawa nickte. »Die Zeit ist gekommen, um zu sagen, was bislang ungesagt blieb. Ich habe Nicholas Boswani im Plenarsaal gesehen. Er war von seinen Speichelleckern umgeben und schien bereit, seinen Zug zu machen.«
»Mohammed wollte doch mit ihm sprechen.«
»Das hat er auch. Anscheinend ohne Erfolg.«
»Das reißt uns rein! Unsere Aufgabe ist auch ohne einen offenen Bruch mit Boswani schon schwer genug. Und er wird heute als Zweiter sprechen!«
»Sie werden sich schon durchsetzen, Agusta.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Haben Sie heute Morgen zufällig Ray Lerners Nachrichten gesehen?«
Furosawa verzog das Gesicht. »Leider hatte ich dieses Vergnügen nicht.«
»Sie haben auch nichts verpasst. Er hat ein Dreiminuten- Porträt von Reverend Lonnie Smith gebracht. Smith ist der Hinterwäldler-Guru, der Schwefel und Verdammnis predigt, seit die Nachricht veröffentlicht wurde. Er scheint zu glauben, dass die Sonde ein Trick der Vereinten Nationen sei, um die Nordamerikanische Union zu übernehmen. ›Die kompromisslose Zurückweisung dieses von den Agenten des Antichristen ausgeheckten technokratischen Plans‹ war die Maßnahme, die er heute Morgen in Lerners Programm angeregt hat.«
Furosawa nickte. »Ich habe den Herrn schon predigen hören. Wirklich, Agusta, Sie sollten sich nicht mit verrückten Randgruppen beschäftigen.«
»Nur dass die Randgruppen ihre Präsenz in der Öffentlichkeit täglich verstärken.«
»Solange Menschen auf diesem Planeten leben, werden ein paar von ihnen darauf beharren, dass die Erde eine Scheibe sei.«
Mrs. Meriweathers Antwort wurde durch den lauten Summton unterbrochen, der die Delegierten aufforderte, zu ihren Plätzen zu gehen. Sie verfolgte, wie auch die letzten Beeinflussungsversuche im Mittelgang eingestellt wurden. Exakt zwei Minuten nach dem Summton stieg Generalsekretär Bruenwald aufs Podium. Bruenwald ging wegen der Arthritis im Rückgrat immer gebückt – und doch verströmte er eine Aura der Macht, bei der die Leute sein Handikap schnell vergaßen.
Der Plenarsaal hallte vom verstärkten Klang eines hölzernen Hammers wider. Bruenwald schaltete das Mikrofon ein und hob an zu sprechen.
»Ich erkläre diese Sitzung der Vollversammlung hiermit für eröffnet. Aus Zeitgründen werden wir auf die üblichen Formalitäten verzichten. Die Delegierten werden beim Blick auf die Tagesordnung feststellen, dass der erste Sprecher Agusta Louise Meriweather, Sekretärin im Exekutivausschuss des Treuhandrats ist. Mrs. Meriweather wird sich zugunsten der Sonderresolution 2065-12 der Vereinten Nationen mit dem Titel ›Eine Resolution für den Empfang des Außerirdischen Raumfahrzeugs, das nun ins Sonnensystem vorstößt‹ äußern.
Mrs. Meriweather?«
Eric Stassel machte sich auf den Weg in die verdunkelte, überfüllte Mitarbeiterlounge. Er kam eine halbe Stunde zu spät zur täglichen Debatte der Vereinten Nationen, und der Holoschirm zeigte bereits die Halle der Vollversammlung. Eine vertraute Gestalt schaute vom Podium zu ihm
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