Leberkäsweckle
Halluzinationen. Fata Morganen. Für Frieders Frau jedoch nicht. Sie sah und wollte nicht gesehen haben. Dort, wo noch vor ein paar Stunden ihr Beet mit all den Blüten, Früchten und Gemüsen gewesen war, dort, wo sie sich so gern aufhielt und arbeitete, dort, genau dort war nichts mehr. Wobei »nichts« der Situation auch nicht gerecht wurde, denn der Mäher war dort schon noch. Aber er hatte halt gemäht. So wie es seine Pflicht war und so wie er programmiert war. Den Moritz konnte man dafür nun wirklich nicht verantwortlich machen. Da war schon eher der Frieder dran.
Wer dran war, das wusste Udo Bürzle im Augenblick nicht. Könnte sein, dass er dran war. Er schaute hinüber zu seinem Zimmergenossen Millreiner.
»Acht senkrecht, vier waagerecht!«, rief der.
Aha, dachte Udo, der war also dran gewesen.
»Versenkt«, musste er vermelden. Millreiner freute sich wie ein kleines Kind.
Gut so, dachte Udo, der hatte sonst nicht viel Freude.
Bei Millreiner war eine kritische Torsion des Hodensacks festgestellt worden, und bei ihm selbst waren die Werte immer noch nicht in Ordnung. Er verstand das gar nicht. Schließlich war er erst Ende zwanzig, und dann die Werte nicht in Ordnung. Draußen wartete die große Karriere auf ihn, und er lag hier drinnen und sollte seine Werte verbessern. Da war es kein Trost, dass sein Zimmerkollege noch wesentlich mehr Zeit in diesen heilenden Hallen verbringen würde.
Mit Trost war es auch bei Pfarrer Leonhard nicht weit her. Die erste Beerdigung hatte er glücklich hinter sich gebracht. Gut, glücklich war jetzt vielleicht nicht das richtige Wort, aber er war froh, dass Eolonie nun unter der Erde war. Das war nicht schön gewesen, als die Lebensgefährtin dann auf den kleinen Gewerkschaftschor losgegangen war. Pfarrer Leonhard hatte eingreifen müssen; er brauchte die drei doch noch für ihren eigentlichen Einsatz.
Er war dabei, in der Sakristei der Aussegnungshalle seine Unterlagen zu ordnen. Die zweite Beerdigung sollte auf jeden Fall anders laufen. Sein Plan war klar, die Liturgie stand, und auch der Chor wusste Bescheid. Somit war alles in bester Ordnung. Da konnte er sich mal ein schönes Zigarillo gönnen. Einfach mal Pause machen. Warum eigentlich nicht?, fragte er sich und hatte den Glimmstängel schon in der Hand.
Als er draußen auf dem kleinen Bänkchen saß, gemütlich die Tabakwolken ausstieß, sah er die Totengräber, zwei an der Zahl, auf sich zueilen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
»He, Chef«, sagte Ignaz, ein Russlanddeutscher, der schon seit fast dreißig Jahren hier lebte. »Hoben wir den Falschen beerdigt!«
»Was haben wir?«, fragte Pfarrer Leonhard.
»Den Falschen halt!«, sagte Ignaz.
»Wie?«, fragte der Pfarrer.
»Mit Schaufel«, sagte Ignaz.
»Sie wollen mir sagen, dass wir eben den Gewerkschafter beerdigt haben?«, fragte der Pfarrer.
»Genau«, sagte Ignaz.
So etwas hatte Pfarrer Leonhard in seiner langen Laufbahn noch nicht erlebt. Er hatte Geschichten gehört, erzählt am Pfarrersstammtisch beim Bier, und gelacht dazu. Aber wenn das hier stimmte, dann hatte er jetzt eine Geschichte zu erzählen. Ein bisschen musste er dennoch innerlich schmunzeln. Hatte er instinktiv doch die richtige Predigt parat gehabt, und auch der Chor hatte gepasst. Oh Herr, dachte Pfarrer Leonhard, deine Wege sind wundersam manchmal. Dann riss er sich aus seinen Träumen und wandte sich wieder der Realität zu. Die hatte ein konkretes Problem für ihn parat.
»Und mir hobet scho zua«, meinte nun Ignaz.
»Ihr habt das Grab schon zugeschaufelt?«, fragte er nach.
»Genau«, sagte Ignaz.
»Das ist natürlich sch… ziemlich blöd gelaufen«, sagte Pfarrer Leonhard.
Ähnliches hatte auch Frieder Kötzle auf den Lippen. Aber damit gab sich seine Frau nicht zufrieden. So hatte er die Barbara noch nie erlebt. Die war vollkommen ausgeflippt. Er hatte seinen Enkel Moritz selbstverständlich in Schutz genommen. Dann war natürlich er der Schuldige, der den Jungen mit diesem »Teufelsgerät« allein gelassen hatte.
Das war schlimm, das war sehr schlimm, dachte Frieder, musste jedoch innerlich ein wenig grinsen. Denn dieses Beet, das war für Barbara wie eine Kirche gewesen. Das Beet und diese Pflanzen und das Wachsen und so. Dort fand sie sich, war wieder Frau und Schoß, war wieder Teil des Lebens, eines blühenden. Sie saß dann dort, andächtig, und schaute auf ihr Beet. Das war ihr Ein und Alles. Er hätte nebendran abnibbeln können, das wäre der Barbara egal
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