Lebkuchen und Bittermandel
alten Freunden, noch immer blind vertrauen? Jedem Einzelnen von ihnen? – Wohl kaum, gestand er sich enttäuscht ein.
»Schildern Sie mir bitte den genauen Ablauf der Ereignisse, die zum Tod Ihres Schulkameraden Torben S. geführt haben«, forderte Katinka die Gäste auf, sich einzubringen. »Lassen Sie kein Detail aus und ergänzen oder verbessern Sie Ihre Vorredner. Je mehr Informationen ich auf diese Weise bekomme, umso besser.«
Kurze Zeit herrschte betretenes Schweigen. Bis Til den Bann brach und mit den Worten »Ach, was soll’s!« zu berichten begann. Andere schlossen sich an, und zuletzt hatten jeder und jede einen Beitrag geleistet.
Für Paul, den Protokollführer, ergab sich erstmals ein geschlossenes Bild der Ereignisfolge, das er – obwohl er seinerzeit ja selbst dabei gewesen war – niemals dermaßen klar und deutlich gesehen hatte oder vielleicht nicht hatte sehen wollen …
18
Zermatt, Schweizer Alpen, Januar 1986:
Die Jahrgangsstufe 13 des Nürnberger Dürer-Gymnasiums genießt den letzten Tag einer ungezwungen fröhlichen Skifreizeit. Oberstudienrat Klugmann freut sich darüber, dass es weder zu Alkoholexzessen, tatkräftigen Auseinandersetzungen oder unzüchtigen Handlungen noch zu ernsthaften Blessuren auf der Piste gekommen ist, und sieht dem Ende des Schulausflugs entspannt entgegen.
Bevor der Bus gegen Mittag in Richtung Heimat aufbricht, gestattet Klugmann den Schülerinnen und Schülern auf deren beharrliches Bitten hin, ihren Skipass ein letztes Mal zu nutzen. Gemeinsam befahren sie mit der Gondel den Berg, um eine abschließende Talabfahrt anzutreten.
Gegen die Absprache sondert sich ein Teil der Gruppe ab: Torben, Sonja, Jakob und Udo verlassen die vorgesehene Route, wählen eine alternative Streckenführung durch einen Nadelholzwald. Dieser Ziehweg würde sie etwa zwei Kilometer weiter zurück auf die Talabfahrt leiten. Doch abermals entscheiden sich die vier Abweichler um: Sie entschließen sich dazu, die präparierte und gesicherte Pistenführung links liegen zu lassen und sich den Rest des Weges auf eigene Faust durchzuschlagen.
Die weitere Abfahrt gestaltet sich für die vier schwieriger als gedacht. Während sie die ersten Probleme noch gemeinsam meistern, sich absprechen und gegenseitig helfen, schwindet die Solidarität angesichts der Belastung zusehends, so dass sehr bald jeder nur noch auf das eigene Fortkommen bedacht ist. Die Abstände zwischen den Skifahrern vergrößern sich, zeitweise verlieren sich die vier Schüler aus den Augen.
Nur mit Mühe und viel verlorener Zeit gelingt es ihnen, den Anschluss an die reguläre Pistenführung wiederzufinden. Erleichtert über den glimpflichen Ausgang ihrer Extratour beeilen sie sich, ihre Mitschüler einzuholen, um pünktlich zur Heimfahrt am Bus zu sein. Doch Zeitdruck, Stress und schlechtes Gewissen verleiten sie abermals dazu, nicht ausreichend aufeinander aufzupassen. Sie blicken sich zwar hin und wieder nach den anderen um, jeder registriert aber nur einzelne Gesichter, niemand zählt nach.
Als sie ihr Ziel, die Gruppe und Lehrer Klugmann, nur zu dritt erreichen, kann daher niemand genau erklären, wo Torben geblieben ist. Folgt er kurz hinter ihnen? Kommt er jeden Moment um die nächste Biegung geschossen? Oder hat er schon weiter oben auf dem Berg den Anschluss verpasst?
Lehrer und Schüler warten geduldig auf den Verspäteten. Niemand macht sich zunächst übermäßig große Sorgen um ihn. Neckische Witze werden gerissen: Torben vergnüge sich womöglich mit einer Maid von der Alm.
Die Tatsache, dass ihr Schulkamerad auch eine halbe Stunde später nicht am Ziel angekommen ist, lässt die Stimmung mit einem Mal kippen: Als die ersten merken, wie viel Zeit inzwischen verstrichen ist, lassen sie das Herumalbern sein, einige geraten in panische Unruhe.
Oberstudienrat Klugmann knöpft sich noch einmal Torbens drei Begleiter vor, spricht abseits der anderen Schüler mit ihnen. Nach diesem Gespräch wirkt er erbost und sehr aufge bracht. Er alarmiert die Bergwacht.
19
… und dann fanden sie den Toten im Schnee, beendete Paul seinen gedanklichen Ausflug in die Vergangenheit. Er legte seinen Kugelschreiber beiseite, da Katinka aufgehört hatte, Fragen zu stellen, und das Mitteilungsbedürfnis der anderen allmählich nachließ. Er fragte sich, welche Schlüsse Katinka aus diesem Fragment der Geschichte ziehen würde.
Sie strich zunächst ihr Haar von der Schulter. Anschließend sah sie zum wiederholten Mal
Weitere Kostenlose Bücher