Lebkuchen und Bittermandel
ausgiebig in die Runde. Prüfend, musternd und begutachtend. Lauernd. Erst eine quälend lang erscheinende Minute später gab sie zu erkennen, dass sie noch immer nicht schlauer war. Denn sie rief: »Kaffeepause! In einer Viertelstunde sehen wir uns wieder.«
Paul entging nicht, dass die Kaffeepause weniger der nervlichen Entlastung der anderen galt, als sie vielmehr Katinka selbst dafür dienen sollte, ihre Gedanken zu sortieren. Er beobachtete sie dabei, wie sie sich mit seiner Mitschrift in den ersten Stock zurückzog. Wahrscheinlich würde sie in der Erkernische so lange über den Protokollen brüten, bis sie endlich vom alles klärenden Geistesblitz getroffen werden würde.
Doch kurz darauf sah er sie schon wieder auf der Treppe stehen, von wo aus sie ihn zu sich herwinkte. Paul folgte ihr bis in den Erker, wo sich beide einander gegenübersetzten, Katinka mit gekräuselter Stirn und unruhig wippenden Fingern.
»Was glaubst du?«, leitete sie das Gespräch mit ihm ein. »Wer hat es getan?«
Paul zuckte mit den Schultern. »Ich bin leider völlig ahnungslos. Ich kenne jeden der Beteiligten, habe die Vorgeschichte selbst miterlebt und tappe dennoch vollkommen im Dunkeln. Vielleicht bin ich an diesem Fall schlicht und einfach zu dicht dran, um mir eine ausgewogene Meinung bilden zu können.«
Katinka nahm das zur Kenntnis und legte ihre eigenen Überlegungen offen: »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Dreh- und Angelpunkt dieses Dramas im persönlichen, zwischenmenschlichen Bereich zu suchen ist. Wir haben es mit einer Eifersuchtstat zu tun sowie mit zwei Folgetaten, die dazu dienen, die Täterschaft der ersten Tat zu vertuschen.«
»Wenn ich das mal frei übersetzen darf, meinst du, dass Torben von einem eifersüchtigen Verehrer oder einer Verehrerin vom Berg gestoßen wurde?«, wollte Paul wissen.
»Nicht ganz. Denn meiner Meinung nach handelte es sich nicht um einen Verehrer, sondern um einen Rivalen.« Mit diesen Worten ließ Katinka eine Fotografie auf dem Display ihres Handys erscheinen. Gleich darauf zog sie eine ganz ähnliche Aufnahme aus ihrer Aktenmappe. Beide Bilder zeigten einen gut aussehenden jungen Mann mit strahlenden blauen Augen, offenem Lächeln, markanten Wangenknochen und naturgewelltem dunkelblondem Haar. »Das Bild auf dem iPhone habe ich mir von der Kripo schicken lassen. Das andere Foto haben wir in Jakobs Koffer gefunden. Beide Aufnahmen zeigen deinen verstorbenen Schulkameraden Torben im Alter von etwa 18 Jahren, also kurz vor seinem Tod«, erklärte sie. »Ich würde sagen, er sah sehr attraktiv aus. Oder?«
Paul sah sich die Bilder an und bestätigte: »Ja, das ist Torben. Aber ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
»Mit der Frage nach seiner Attraktivität?« Katinka zeigte ein feines Schmunzeln. »Liegt es nicht auf der Hand? Für mich als Außenstehende hätte dieser Torben das perfekte Pendant zu eurer Schönheitskönigin Sonja abgegeben. Wenn ich mir die beiden zusammen vorstelle, wären sie zumindest äußerlich das Traumpaar schlechthin gewesen.«
»Aber ich dachte, Torben war schwul?«, brachte Paul eine andere Erkenntnis aus den Verhören ins Spiel. Nämlich die, dass Matthias damals Torben und Jakob in flagranti ertappt hatte.
Katinka deutete ein Kopfschütteln an. »Nicht unbedingt. Vieles spricht dafür, dass Jakob homosexuell veranlagt war, und da er ein Foto von Torben aufbewahrt hat, muss er für ihn geschwärmt haben.«
»Aber umgekehrt nicht?«, folgerte Paul.
»Nein. Es ist anzunehmen, dass Torben mit Jakob wohl nur experimentiert hat. Denn wenn ich nicht völlig danebenliege, muss er in Wahrheit hinter Sonja her gewesen sein. Habt ihr nicht gesagt, dass Torben ein ausgezeichneter Skifahrer war?«
»Ja, soweit ich mich erinnere, zählte er zu den besten. Er galt ja als Sportskanone«, bestätigte Paul.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass es Torben selbst gewesen ist, der die kleine Extratour abseits der Piste vorgeschlagen hat, um sein Skitalent unter Beweis zu stellen und Sonja damit zu imponieren. Am liebsten hätte er diesen Abstecher wohl mit seiner Flamme allein unternommen.«
Allmählich dämmerte Paul, worauf sie anspielte, und er knüpfte an Katinkas Gedankengänge an: »Doch Udo, der ja schon damals Sonja für sich beansprucht hat, schloss sich den beiden an und wachte eifersüchtig über seine Freundin.«
»Richtig. Ebenso tat es Jakob, der wiederum Torben argwöhnisch beobachtete«, brachte Katinka das Gedankenkonstrukt zu
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