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Lebkuchen und Bittermandel

Lebkuchen und Bittermandel

Titel: Lebkuchen und Bittermandel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Beinßen
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Schreie nur eingebildet? Aber nein! Sie waren so laut und deutlich zu hören gewesen, als wären sie aus dem Nachbarzimmer gekommen.
    Um keinen blinden Alarm auszulösen, erhob sich Paul leise aus seinem Bett. Barfüßig schlich er aus dem Zimmer. Der Flur war in Schummerlicht getaucht. Auf halbem Weg zur Treppe, direkt neben einer hüfthohen Vase, saß einer der Schutzpolizisten auf einem Stuhl. Paul ging auf ihn zu, um ihn zu fragen, ob auch er den Schrei gehört habe. Doch als er vor dem Polizisten stand, sah er, dass dessen Augen geschlossen waren und der Kopf auf der Schulter ruhte. In den Ohren trug der Beamte die Hörstöpsel eines MP3-Players. Die Musik hatte ihn wohl schlaftrunken gemacht.
    Paul ging zurück bis zum Nachbarzimmer, wo er die Quelle der nächtlichen Unruhe vermutete. Beherzt klopfte er an die Tür. Als sich nichts rührte, drückte er die Klinke herunter.
    In der gleichen Sekunde wurde die Tür von innen aufgerissen. Ehe Paul sichs versah, stürmte eine schattenhafte Gestalt auf ihn zu und versetzte ihm einen schmerzhaften Rempler. Paul taumelte zwei Schritte zurück. Der Angreifer verlor keine Zeit und ergriff die Flucht. Bevor Paul vollends begreifen konnte, was vor sich ging, war die Gestalt in der Dunkelheit am Ende des Flurs untergetaucht.
    So schnell es ging, rannte Paul zum Lichtschalter, rüttelte kurz darauf den Polizisten wach. Doch es war bereits zu spät. Von dem angriffslustigen Schatten fehlte jede Spur.
    Keine Minute später tauchte auch Katinka auf. Gemeinsam betraten sie das Zimmer, dessen Tür noch immer weit offen stand. Die Nachttischlampe war umgestoßen worden. Auch ein Glas lag auf dem Boden und hatte seinen Inhalt über den Teppich vergossen.
    Klugmanns stämmiger Körper lag ausgestreckt auf dem Bett, die Arme und Beine leicht abgewinkelt. Sein Kopf war unter einem Kopfkissen verborgen, das auf der Oberseite die Abdrücke von zwei Fäusten aufzeigte, mit denen es auf das Gesicht des Lehrers gepresst worden war.
    »Oh, nein!«, stieß Paul entsetzt aus. Nun bestand nicht mehr der leiseste Zweifel daran, dass sich ein Mörder in ihren Reihen befand.

17
    Der Morgen graute, als das Team der Spurensicherung gemeinsam mit dem Leichenbeschauer das Gasthaus verließ. Katinka hatte veranlasst, dass die Tische des Gastraums an den Rand geschoben wurden und die Stühle, nebeneinander gestellt, einen Halbkreis ergaben. Jeder Gast bekam von ihr eine persönliche Einladung, sich um Punkt acht Uhr früh zu einer Gruppenbefragung einzufinden. Sie kündigte an, die näheren Umstände des tödlichen Skiunfalls von Zermatt klären zu wollen und somit den Grund für die mittlerweile zwei Morde im Goldenen Ritter aufzudecken.
    Angesichts dieser strikten Zeitvorgabe würde kaum die Gelegenheit dafür bestehen, ein Frühstück vorzubereiten, musste Paul mit Bedauern feststellen. Denn nach dem Schock der letzten Nacht knurrte sein Magen nun besonders laut. Ein Blick in die Küche ließ seine Sorgen jedoch verfliegen: Jan-Patrick und Marien quirlten schon fleißig Eier, aus denen sie mithilfe eines milden Ziegenkäses aus der Hersbrucker Schweiz und getrockneten Kräutern vom Wiesentufer goldgelbe, schaumweiche Omeletts buken.
    Gestärkt durch die delikate Eierspeise und starken Kaffee nahm Paul erneut seine Arbeit als Protokollant auf, während Katinka in weitschweifender Geste auf die versammelte Runde deutete und verkündete: »Meine Damen und Herren, wie Sie inzwischen alle wissen, hat sich heute Nacht ein weiterer Zwischenfall ereignet. Ein zweiter Mord ist geschehen – und abermals wurde die Tat in einer geschlossenen Gesellschaft verübt. Das bedeutet: Der Täter oder die Täterin ist noch immer unter uns.«
    Das Raunen, das Katinka entgegenschlug, ließ sie ganz bewusst ausklingen und redete erst weiter, nachdem sich auch der letzte Zuhörer beruhigt hatte und das Tuscheln erstarb. »Da ich nicht davon ausgehen kann, dass sich der Täter freiwillig stellt und uns sein Motiv verrät, bin ich auf die Hilfe von Ihnen allen angewiesen. Denn nach den Einzelgesprächen, die ich mit Ihnen geführt habe, glaube ich, die Ursache für die beiden Morde in einem längst vergangenen Ereignis suchen zu müssen. Wie schon angedeutet, möchte ich Sie über Ihren Schulausflug ins schweizerische Zermatt befragen.«
    Wieder erfüllte ein Wispern und nervöses Räuspern die Stuhlreihen. Paul betrachtete nacheinander die Gesichter seiner einstigen Wegbegleiter und fragte sich: Würde er ihnen, seinen

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