Lebkuchen und Bittermandel
konnte Paul erkennen, wie sich der Flüchtende an den Fenstergriffen zu schaffen machte. Plante er, über das Dach zu entkommen?
Sämtliche Gefühle und Ängste unterdrückend, schwang sich Paul zu einem neuen Versuch auf, Udo aufzuhalten. Er stieß sich aus der Hocke ab, rannte die wenigen Schritte bis zum Zimmerfenster, geriet über einem Teppich ins Stolpern und fiel mit lautem Fluchen geradewegs in Udos Rücken.
Die Wucht des Aufpralls brachte auch Udo zu Fall. Beide Männer lagen unter dem Fensterbrett, starrten sich feindselig an, ballten die Fäuste, bereit zum Kampf.
Doch dazu kam es nicht mehr. Endlich tauchten auch die anderen auf. Die Polizisten ebenso wie Katinka und viele der Gäste. Der kleine Raum war rasch gefüllt mit Helfern und Neugierigen.
»Das war’s dann wohl«, raunte Paul Udo zu und ließ von ihm ab. »Frohe Weihnachten.«
»Du mich auch!«
22
Von vorweihnachtlicher Stimmung war am späten Vormittag dieses vierten Advents wenig zu spüren. Paul steckte die Aufregung der Nacht in den Knochen, und er nahm erleichtert zur Kenntnis, wie Udo mit der laut schluchzenden Sonja an seiner Seite abgeführt und in einen Streifenwagen verfrachtet wurde.
Die traurige oder vielmehr verstörte Gesellschaft, die zurückblieb, machte auf Paul den Eindruck einer Gruppe von Freunden, deren letzte verbliebene Kindheits- und Jugendideale soeben zerplatzt waren wie Seifenblasen. Niedergeschlagenes Schweigen herrschte im Goldenen Ritter, jeder hing seinen eigenen traurigen Gedanken nach, kaum fähig, die dramatischen Ereignisse der letzten Stunden zu verarbeiten.
Für Paul schien es sicher zu sein, dass es das traditionelle Adventstreffen des Abi-Jahrgangs ’86 in dieser Form nie wieder geben würde. Die lockere Zusammenkunft, das vertrauensvolle Plaudern, Klatschen und Tratschen, das Pflegen der Nostalgie und Schwelgen in der Vergangenheit hatte zu einem jähen Ende gefunden. Denn die Vergangenheit selbst hatte einen schweren, schwarzen Schatten auf das Hier und Jetzt geworfen. Das Abi-Treffen hatte seine Unschuld verloren, endgültig und unwiederbringlich.
Das bedrückende Schweigen lag wie eine Last auf den Schultern der ratlos inmitten des Gastraums stehenden Gäste, bis Til die Stille mit seiner selbstbewussten, kräftigen Stimme durchbrach:
»Ich sag mal, die Show ist zu Ende, Leute. Aufbruch ist angesagt!«
Katja sah ihn angesichts der Barschheit seiner Worte böse an, doch ihr Mann Matthias nickte. »Auch wenn ich es nicht so flapsig ausdrücken würde: Til hat recht. Wir haben hier alle nichts mehr verloren.«
Hilde schmiegte sich an Davids Seite und sagte: »Das alles ist … furchtbar. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass in unserem Freundeskreis so etwas passieren könnte: drei Tote, und alles nur der Liebe wegen …«
»Frauen bringen eben bloß Unglück«, kommentierte Ulrich, rechnete wohl mit Widerspruch, doch niemand ließ sich darauf ein.
»Also, Freunde, packen wir’s?«, wiederholte Til seinen Aufruf und fingerte bereits nach seinem Porscheschlüssel.
»Ja, ich denke, das ist das Beste für uns alle«, stimmte Paul zu. »Jeder hat jetzt das Bedürfnis, für sich allein zu sein.«
»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, bestätigte Katinka. »Ihre Adressen sind bekannt, es besteht also keine Veranlassung, Sie hier länger festzuhalten.«
Damit kam Bewegung in die Runde. Einige strebten die Treppe an, um ihre Reisetaschen von oben zu holen, andere nahmen sich ihre Mäntel von den Garderobenhaken.
»Aber, nein!«, schallte plötzlich Jan-Patricks Stimme durch den Raum. »Das geht doch nicht! Ihr könnt nicht aufbrechen, ohne eine Wegzehrung mitzunehmen!« Mit diesen Worten balancierte er ein großes Silbertablett zwischen Tischen und Stühlen hindurch. Auf dem Tablett war pyramidenförmig ein Haufen Lebkuchen aufgeschichtet worden. Backfrische Lebkuchen mit Mandelsplittern.
Wort- und fassungslos starrten ihn die Gäste an.
23
Die anderen waren bereits gegangen, als sich Paul gemeinsam mit Katinka auf den kurzen Heimweg quer über den Weinmarkt machen wollte. Spontan entschied sich Jan-Patrick dazu, sich ihnen anzuschließen.
»Ich brauche dringend frische Luft«, erklärte der Küchenmeister, der etwas angefressen darüber war, dass niemand einen seiner legendären Lebkuchen hatte mitnehmen wollen.
Vor der Tür erwartete sie eine ungetrübte Winterstimmung mit zuckerweißem Schnee und königsblauem Himmel. Lange Eiszapfen hingen von den Dachrinnen und Erkern
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