Lebt wohl, Genossen!
INSICHTEN
Selbstverständlich bereiteten die Verbündeten mit ihren unterschiedlichen und doch gleichermaßen chronischen Problemen dem Kreml viel Kopfzerbrechen. Gleichzeitig litten die sowjetische Wirtschaft und Gesellschaft selbst unter krisenhaften Zuständen, die man mit den bisherigen Mitteln nicht beheben und immer schlechter kaschieren konnte.
Eine der Koryphäen der sowjetischen Medizin, der Chirurg Fjodor Uglow, hielt im Jahr 1981 im ukrainischen Dserschinsk einen Vortrag über das Thema Trunksucht. Er begann seine Rede, wie es damals üblich war, mit dem Lob der weisen Politik der Partei und zitierte in gewohnter Weise den Generalsekretär Leonid. In allem anderen aber schockierte der hoch gelobte Mediziner mit seinem Beitrag die Hörerschaft. Uglow war ein Gesundheitsfanatiker, ihm war der Spruch zu eigen: «Gewöhnen Sie sich das Saufen und Rauchen ab, sonst nützen Ihnen keine anderen Ratschläge.» Als habe er seine Prinzipien unter Beweis stellen wollen, brachte er es tatsächlich auf eine Lebenszeit von stolzen 104 Jahren (1904–2008). Zunächst aber analysierte er Russlands chronische Krankheit, den Alkoholismus, und nannte Zahlen, die zu den bestgehüteten Geheimnissen dessowjetischen Staates gehörten. Dementsprechend sollte die Alkoholproduktion zwischen 1936 und 1970 um 157 Prozent, bis 1975 weiter auf 214 Prozent, bis 1976 gar um 327 Prozent angewachsen sein. Zwar spülte das Alkoholmonopol in den Siebzigerjahren jährlich 20 Milliarden und in den Achtzigerjahren 40 Milliarden Rubel in die Staatskassen, die Kosten durch alkoholbedingte Produktionsausfälle und Krankheiten übertrafen diese Zahl jedoch bei Weitem. Kein Wunder, dass Uglows Analyse unveröffentlicht blieb und nur über einige illegale Abschriften aus dem sibirischen Wissenschaftszentrum Akademgorodok Verbreitung fand.
Diese noch zu Chruschtschows Zeiten als Prestigeobjekt erbaute Siedlung am Rande von Nowosibirsk galt als geheime Hauptstadt der aufgeklärten Funktionäre und der wissenschaftlichen Elite. Dort arbeitete ein hochkarätiges Team um die Ökonomen Tatjana Saslawskaja und Abel Aganbegjan. Sie bemerkten als Erste, dass die Stagnation der sowjetischen Wirtschaft, die 1966 noch ein Bruttoinlandsprodukt von 7,2 Prozent aufzuweisen hatte, 1985 gar nur noch von 3,2 Prozent, nicht zuletzt auf die lähmende Kommandowirtschaft zurückzuführen war. Besonders ungesund entwickelte sich der sowjetische Export – er bestand aus immer mehr Rohstoffen und Energie und immer weniger aus Maschinen und fertigen Produkten. Auf dem Agrarsektor war die Lage besonders dramatisch. Während die UdSSR 6,4-mal so viele Traktoren und 16-mal mehr Mähdrescher als die USA produzierte, lag die Getreideproduktion um 1,4 Prozent unter jener der führenden Macht der kapitalistischen Welt. Dies war zwar aus der quantitativen Sicht der planenden Zentren ein Erfolg, im Grunde aber bezeugte das Phänomen die katastrophale technische Qualität der Maschinenproduktion.
Die Reformer aus Sibirien stellten aber nicht nur eine Diagnose, sondern erhoben auch für diese Zeit sehr radikale Forderungen: mehr Selbstständigkeit für die Betriebe, Ausdehnung des Handels und der Rolle des Marktes, Annäherung der Waren- und Finanzwirtschaft an rationale Kriterien. Als Vorbild dachten sie nicht unbedingt an die hoch entwickelten Länder des kapitalistischen Westens, sondern eher an Staaten innerhalb der «sozialistischen Gemeinschaft», die bestimmte Probleme besser gelöst hatten – beispielsweise durch Beibehaltung oder Wiedereinführung der bäuerlichen Gartenwirtschaft. Tatjana Saslawskaja orientierte sich in vielem am ungarischen Modell. So fiel ihr auf, dass in ungarischen Läden Plastiktüten zur Verfügung standen, während der Sowjetbürger in dengroßen Supermärkten seine eigene Tasche an der Garderobe abzugeben hatte und die Waren unter dem Arm oder bestenfalls in Zeitungspapier verpackt zur Kasse tragen musste. Die Demütigung der Bürger im Konsumbereich war besonders in der Lebensmittelversorgung eklatant, sodass die langen, geduldigen Schlangen im Verlauf der Achtzigerjahre immer mehr zu gereizten, ungeordneten Menschentrauben wurden. Der Unmut richtete sich zumeist gegen die sichtbar Privilegierten. In einem Provinzladen sah der Autor dieser Zeilen eine für die Zeit typische Auseinandersetzung: Ein Alter versuchte außerhalb der Schlange seinen Einkauf zu tätigen und argumentierte damit – rein formal gesehen zu Recht –, er sei
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