Lebt wohl, Genossen!
dem spanischen Königspaar im Mai 1984, das Tschernenko im prächtigen Wladimirsaal empfangen sollte, um sie dann zum Mittagsmahl in den Granitpalast hinüberzugeleiten. Juan Carlos I. und Königin Sofia warteten auf die Gastgeber. Tschernenko und seine Begleitung kamen ihnen in dem großen Saal im Schneckentempo entgegen, und jedes Mal, wenn der KP-Führer um Atem rang, mussten alle stehen bleiben. Tschernenko war übrigens der erste (und letzte) Führer der Supermacht, der gerne bereit gewesen wäre, aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme zurückzutreten. Am 9. Januar 1985 sagte er seinen Mitarbeitern in Anwesenheit von Dr. Tschasow, er wolle gern abdanken. Die Mitglieder des Politbüros protestierten unisono: «Wozu diese Eile? Man muss ihn sich ein bisschen kurieren lassen, das ist alles.» Zwei Monate später war Tschernenko tot.
Das wiederholte Ableben von vergreisten Kadern in der Sowjetunion bewirkte eine moralische Abnutzung der immer wieder dramatisch verkündeten Trauernachrichten. Hatten die Leute 1953 noch mit tumultartigen, hysterischen Ausbrüchen auf Stalins Tod reagiert, so erlebten sie die sichtbare körperliche Schwäche ihrer Führer und die monoton gewordene pathetische Zeremonie ihres letzten Geleits auf dem Bildschirm eher als etwas Groteskes, Unseriöses, das dem Ruf ihrer Heimat schadete.
W ARTEN AUF G ODOT
Die Führungskrise war unverkennbar – dennoch ließ man sich viel Zeit bei der Suche nach einer Lösung. Der hohe Funktionär Georgij Schachnasarow erinnerte sich später an die entscheidenden Monate vor Tschernenkos Tod wie folgt: «Die Vorstellung, die Zeit sei für eine radikale Wende so weit herangereift, dass das Land wie eine Frau gegen Ende des neuntenSchwangerschaftsmonats unbedingt hätte niederkommen müssen, ist naiv. (…) Zunächst setzte ein unmerklicher Niedergang ein, bevor es rapide bergab ging. (…) Es handelte sich jedoch noch nicht um ein offenes Feuer, sondern um einen Schwelbrand. Die Vorräte an natürlichen Rohstoffen und an menschlicher Geduld hätten noch für lange Zeit ausgereicht.» Er erzählte auch, wie er im engen Familienkreis immer häufiger von jenem jüngeren und arbeitsfähigen Kader sprach, der diesem Hinsiechen ein Ende bereiten würde: Michail Gorbatschows allmählicher Aufstieg erweckte die Hoffnung, dass auf dem «Alten Platz» bald ein neuer Kopf erscheinen könnte, dass ein frischer Wind die vermoderte Luft reinigen und gesegnete Zeiten folgen würden. «Bei uns in der Familie taufte man diese Hoffnung aus konspirativen Gründen, frei nach Beckett,
Warten auf Godot.»
Und Godot-Gorbatschow war bereits unterwegs.
III.
D ER G ORBATSCHOW – M OMENT
( 1985–1988 )
Wird ein Epoche beerdigt,
Tönt kein Psalm übers Grab.
Brennnesseln, Disteln
Werden den Hügel verzieren.
Den Totengräbern im Zwielicht
Geht’s von der Hand. Und es eilt.
Mein Gott, wie die Stille wächst.
Man hört die Zeit vergehn.
Anna Achmatowa
Wie ein Abschiedsgruß aus einer versunkenen Epoche wirkt heute der am 15. März 1985 in allen sowjetischen Zeitungen veröffentlichte offizielle Bericht über die Ergebnisse der Wahlen zum Obersten Sowjet, bei denen der kaum mehr bewegungsfähige Parteichef Konstantin Tschernenko kurz vor seinem Tod seinen Stimmzettel noch mit zitternden Händen in die Urne werfen konnte. An diesen letzten Wahlen beteiligten sich mehr als 185 Millionen Wähler, insgesamt 99,98 Prozent der Stimmberechtigten. 99,93 Prozent gaben ihre Stimme für die Einheitsliste des «Blocks der Kommunisten und Parteilosen» und demonstrierten damit – so hieß es im Bericht – «den echten Volkscharakter der Sowjets, die untrennbare Einheit und Freundschaft der Völker der UdSSR».
Als Tschernenko am 10. März verstarb, präsentierte der Oberste Sowjet bereits einen Tag später seinen neuen Generalsekretär, den 54 Jahre alten Michail Gorbatschow. Mit ihm kamen ein neuer Geist und Stil in die Arbeit des Politbüros, des höchsten Gremiums des Landes. Sowohl im Konferenzsaal als auch in dem für vertraulichere Gespräche bestimmten sogenannten Nussbaumzimmer sprach man immer häufiger ungeschminkt über die enormen Probleme des Riesenlandes.
Ursprünglich galt es, die Agenda von Gorbatschows Gönner Andropow nach der Übergangszeit des kraftlosen Tschernenko wieder in Angriff zu nehmen: Das ökonomische Wachstum sollte durch Modernisierung der Technik und Technologie angekurbelt werden (
Uskorenije
– Beschleunigung), die Führungsstrukturen
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