Lebt wohl, Genossen!
kriegsversehrt. Daraufhin hörte man aus der Menge die bissige Bemerkung: «Wir sind alle kriegsversehrt (wsje my inwalidy).»
D ER HEISSE UND DER K ALTE K RIEG – M OSKAUS V IETNAM
Eine besondere Belastung für die ohnehin geschwächte und rüstungsorientierte Wirtschaft bedeutete der seit Ende 1979 geführte Krieg in Afghanistan. Um das künstlich geschaffene sozialistische System am Hindukusch zu erhalten und einem möglichen Terraingewinn der USA vorzubeugen, beschloss Moskau die Entsendung eines «begrenzten Truppenkontingents». Das waren in zehn Jahren insgesamt 500.000 Soldaten. Indessen forderte das Gemetzel zwischen Regierungstruppen und Mudschaheddin Hunderttausende von Opfern und erzeugte Millionen Flüchtlinge. Kabuls sowjetischer Patron ließ sich die «internationalistische Hilfeleistung» gegenüber den eigenen Marionetten jährlich drei bis fünf Milliarden Rubel kosten. Stärkere Auswirkungen jedoch hatte die Tatsache, dass mehr als 13.000 Sowjetsoldaten in Afghanistan ums Leben kamen. Die Zinksärge der Gefallenen wurden Familienangehörigen unter strengster Geheimhaltung zugestellt, und obwohl es ausdrücklich verboten war, in den Traueranzeigen und Grabinschriften den Ort des Todes anzugeben, wurde den Menschen der hohe Preis des Engagements am Hindukusch immer stärker bewusst.
Doch mehr Sorgen als die Trauer um die Gefallenen bereitete die Rückkehr und Integration von 54.000 lebenden, teilweise verstümmelten, schwer traumatisierten Verwundeten in die friedliche und dank der Zensur weitgehend nichtsahnende sowjetische Gesellschaft.
Zudem verschlechterte der Krieg die ohnehin komplizierten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, dessen Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion in einer Rede 1983 als «Reich des Bösen» bezeichnete – ein gewichtiges Argument in der psychologischen Kriegsführung. Gegen diesen Feind erlaubte sich der US-Präsident sogar den witzig gemeinten Fauxpas, während einer Mikrofon-Sprechprobe einige anrüchige Sätze fallen zu lassen, die sofort an die Öffentlichkeit gelangten.
D AS W EGSTERBEN DER F ÜHRER
Symbolhaft für das marode und kranke System waren die dramatischen Wachablösungen an der Machtspitze Anfang der Achtzigerjahre. Der Chefarzt des Kremlkrankenhauses, Jewgenij Tschasow, diagnostizierte bereits 1976 bei Breschnew «einen unzurechnungsfähigen asthenischen Zustand aufgrund der übertriebenen Einnahme von starken Beruhigungsmitteln» und fügte in seinen Memoiren hinzu: «Breschnews Handlungsunfähigkeit als Führer und politischer ‹leader› des Landes und damit auch die beginnende Krise der Partei und des Landes (…) ich weiß nicht mehr, wie viele offizielle Informationen über Breschnews Gesundheitszustand wir in seinen letzten 6–7 Lebensjahren an das Politbüro geschickt haben. (…) Niemand von den Mitgliedern des Politbüros zeigte auch nur ein minimales Interesse an diesen Informationen.»
Ähnlich verhielt es sich mit Breschnews Nachfolger Jurij Andropow, der, so Tschasow, bereits bei seinem Amtsantritt an einer langjährigen chronischen Nierenkrankheit litt und in seinen verbleibenden anderthalb Jahren mit wöchentlich zwei Dialysetagen das Imperium lenkte. Eine Nierentransplantation, wie ursprünglich vom KGB geplant, bewertete ein Konsilium sowjetischer Ärzte unter Beteiligung des amerikanischen Nephrologen Professor Rubin als hoffnungslos.
Dabei hatte Andropow ehrgeizige Pläne zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und leitete eine Kampagne zur Bekämpfung der weit verzweigten Korruption ein, insbesondere in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Neben der Enthüllung der sogenannten «Baumwollaffäre» in Usbekistan, einer beinahe massenhaften Mafiawirtschaft unter Beteiligung von großen Teilen des Parteiapparats, ließ er ein Verfahren gegen Moskauer Machenschaften anstrengen, deren Fäden bis zur Familieseines Vorgängers reichten. Als die ersten Ermittlungsergebnisse im Kreml eintrafen, lag jedoch der Auftraggeber bereits auf dem Sterbebett. Der letzte Kremlchef aus der alten Generation, Konstantin Tschernenko, war bereits im ersten Moment seines Amtsantritts arbeitsunfähig. Er litt an chronischem Asthma und rang buchstäblich um Atem. Sein einjähriger Aufenthalt im Kreml erwies sich als Zustand der fortgesetzten Agonie und war für den kranken Generalsekretär eine einzige Quälerei. Vor allem fürchteten sich seine Mitarbeiter vor protokollarischen Ereignissen. Besonders peinlich war die Begegnung mit
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