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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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eine enorme Summe für das kleine Gebiet. Die beiden Delegierten kehrten nach Eriwan zurück, um die Gemüter zu beruhigen. Es war jedoch zu spät. Die andere Seite hatte am 26. Februar 1988 mit einem blutigen Pogrom gegen die armenische Minderheit in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait zugeschlagen. Mehr als 30 Tote und Hunderte von Verwundeten waren das tragische Ergebnis.
    Zum ersten Mal fühlte sich der Vater der Perestroika in einer ausweglosen Situation. Dabei war der nationale Konflikt im Kaukasus nur der Beginn eines Flächenbrandes.
    Insgesamt herrschte im Sowjetland infolge der Dynamisierung des politischen Lebens ein recht widersprüchliches Klima. Während in den großen Städten Moskau und Leningrad, in denen die Intelligenzija über relativ großen Einfluss verfügte, so etwas wie eine Aufbruchstimmung aufkam, gab sich die Peripherie eher zurückhaltend. Die Gesellschaft, jahrzehntelang an die Eintönigkeit eines bürokratisch verwalteten Staates gewöhnt, reagierte auf alle Neuerungen mit Misstrauen. In Anwesenheit seiner Berater gab Gorbatschow offen zu: «Ich will, dass es menschlich zugeht, dass es nicht zum Blutvergießen kommt, dass sie ein Gespräch miteinander beginnen. (…) Ich weiß keine Lösung.»
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    Die Führer der Volksrepublik Polen erteilten im September der renommierten Firma Henryków den Auftrag, einen runden Tisch aus 14 Elementen mit einem Durchmesser von neun Metern sowie die dazugehörigen58 Stühle zu fertigen. Seinerzeit hatte dieselbe Werkstatt den Thron des polnischen Papstes Johannes Paul II. sowie die Inneneinrichtung des Warschauer Königspalastes hergestellt. Diesmal jedoch gelang es ihr, mit dem
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ein wahrhaft historisches Unikat zu schaffen. Er entstand vor einem recht dramatischen Hintergrund. Am
16.
August 1988 begann, als Protestaktion gegen geplante Preiserhöhungen, eine Streikwelle, mit der auch die verbotene Gewerkschaft Solidarność legalisiert werden sollte. Am 31. August, dem Jahrestag der Unterzeichnung des Danziger Abkommens acht Jahre zuvor, vereinbarten die Vertreter der Regierung (Innenminister Kiszczak) und der Opposition (Lech Wałęsa) den Beginn von Verhandlungen, die Polens unmittelbare Zukunft bestimmen sollten.
    Der Vorstoß zu einer Einigung begann jedoch früher, und zwar von Regierungsseite: Ende September 1986 kam es zu einer Amnestie, 250 politische Gefangene – praktisch die komplette Führung der Solidarność – wurden aus der Haft entlassen. Atmosphärische Veränderungen brachte auch der Papstbesuch im Jahr 1987 mit sich, da er der katholischen Kirche für die bevorstehenden sozialen und politischen Auseinandersetzungen den Rücken stärkte.
    Sicherlich sah sich die polnische Führung durch die tiefe Krise veranlasst, der Opposition erkennbare Zugeständnisse zu machen. Auch Gorbatschows Erscheinen am Horizont bestärkte sie in diesem Sinne, und der Westen war bereit, die weichere Politik mit einer gewissen Großzügigkeit zu honorieren: So wurde die wegen des Kriegsrechts verhängte Wirtschaftsblockade gelockert, und somit war die Bahn frei, um auch Gespräche über eine Umschuldung zu führen. Entscheidend war jedoch die Tatsache, dass Polen über eine zwar geschwächte, aber nicht zerschlagene Opposition verfügte, deren Institutionen – Verlage, Zeitungen, illegale «fliegende Universitäten» und andere – die Jahre der Militärherrschaft überlebt hatten. Polen verfügte außerdem mit Wałęsa über einen international anerkannten Arbeiterführer sowie eine Reihe unabhängiger Intellektueller vom Kaliber eines Adam Michnik, Bronisław Geremek oder Jacek Kuroń. Zwischen der Opposition und den pragmatisch-kommunistischen Kreisen um den Premier Mieczysław Rakowski vermittelten hohe Persönlichkeiten des katholischen Klerus wie die Bischöfe Alojzy Orszulik und Tadeusz Glockowski diplomatische erste Hilfe.
    Eines der Haupthindernisse bei den Vorbereitungen der Gespräche bildete die von der Militärregierung gleichzeitig mit dem Verbot derSolidarność ins Leben gerufene staatliche Gewerkschaft OPZZ mit ihrem Vorsitzenden Alfred Miodowicz, der gleichzeitig Mitglied des Politbüros der Partei war. Die offizielle Seite unterstützte ihn nach wie vor, und die Spannungen gingen so weit, dass die Kommunisten zu einem bestimmten Zeitpunkt – es soll im Oktober 1988 gewesen sein – sogar bereit waren, den Runden Tisch aus der Werkstatt Henryków wieder

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