Lebt wohl, Genossen!
auseinanderzunehmen.
Kardinal Józef Glemp – Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft
Eine definitive Wende für die Verhandlungslinie vollzog sich erst Ende November, als das Politbüro eine öffentliche Debatte zwischen Miodowicz und Wałęsa genehmigte, die wundersam friedlich verlief und den Arbeiterführer zweifellos auf das Siegertreppchen stellte. Dieses Fernsehgespräch am 30. November 1988 war die erste öffentliche Auseinandersetzung zwischen Partei und Opposition in den Medien eines sozialistischen Staates.
MIODOWICZ Ist der gewerkschaftliche Pluralismus die einzige Lösung für alle polnischen Probleme? Man muss ebenfalls die Chancen einer Parteisehen, in der bedeutende Umwälzungen ihren Lauf nehmen und nehmen werden. Aber die größten Chancen, die Sie erwähnt haben, stellen natürlich die grauen Zellen unserer Intelligenz dar, die nicht voll genutzt werden.
1987 war es bereits so weit: Die britische Regierungschefin durfte bei ihrer Polenvisite den offiziell nicht anerkannten Solidarność-Führer, Lech Wałęsa, besuchen (links von Wałęsa sein Beichtvater Jankowski)
WAŁĘSA Wenn ich von Pluralismus spreche, habe ich drei Bereiche im Sinn: die Wirtschaft, die Gewerkschaftsverbände und die Politik. Dahin gehend müssen wir übereinkommen, da diese Ideale früher oder später siegen werden. Eine einzige Organisation wird nie das Patent zur Allwissenheit besitzen. Deshalb werden wir uns den Pluralismus erkämpfen – ob es Ihnen gefällt oder nicht.
MIODOWICZ Herr Wałęsa, ich verstehe, dass jeder von uns bei seinen Argumenten bleiben will.
WAŁĘSA Sie sollten dabei helfen, Meinungsfreiheit einzuführen und diese nicht zu blockieren. Wenn Sie wirklich das Beste für Polen wollen.
MIODOWICZ Aber Sie verstehen, dass man bei dem sehr impulsiven Charakter der Polen bei aller Verschiedenheit auf die Einheit achten muss. Ansonsten werden wir einander bekämpfen und uns zersplittern.
WAŁĘSA Lasst uns den Menschen das Glück nicht aufzwingen. Lasst uns ihnen Freiheit geben und aufhören, uns auf der Stelle zu bewegen. Schauen Sie sich doch die Ungarn an, wie weit sie gekommen sind.
MIODOWICZ Sehen Sie bei uns keine wesentlichen strukturellen Veränderungen in Richtung Demokratie?
WAŁĘSA Ich sehe, dass wir uns zu Fuß fortbewegen, während andere mit Autos davonfahren.
MIODOWICZ Bald werden auch wir in diese Autos einsteigen.
WAŁĘSA Ich nehme Sie beim Wort. Nur hoffe ich, dass wir auch die Menschen mitnehmen, da wir vor allem für sie handeln.
MIODOWICZ Ja. Also bedanken wir uns bei unseren Zuschauern und wünschen ihnen eine gute Nacht.
WAŁĘSA Danke sehr!
Einen Tag nach dieser Auseinandersetzung, die von vielen Millionen Polen mit angehaltenem Atem verfolgt worden war, reiste Wałęsa in Begleitung seines Beraters, des Historikers Bronisław Geremek, nach Paris, um den 40. Jahrestag der Deklaration der Menschenrechte zu feiern. In der französischen Hauptstadt wurde er – übrigens gemeinsam mit Andrej Sacharow – fast wie ein Staatsgast empfangen.
U NGARN – DIE «WEICHE D IKTATUR»
In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre zeigte sich die Schwäche des Systems in Ungarn in der Lockerung seiner Kontrolle. Das spektakulärste Phänomen war die Eröffnung kleiner Kopierläden in Budapest und den größten Komitatsstädten. Früher durften nur Kopiergeräte benutzt werden, die sich im Besitz staatlicher Institutionen oder Betriebe befanden, und den Schlüssel zum Kopierzimmer hüteten die jeweiligen führenden Kader. Nun konnte diese Technik auf privaten Wegen aus dem Westen eingeführt werden, ebenso wie Faxgeräte oder wie die ersten Computer, die eine wahre Revolution in der Kommunikation auslösten.
Die oben erwähnten Kopierläden, ebenso wie die vielen Boutiquen, signalisierten eine Blütezeit des privaten Kleinhandels und Handwerks. Die ersten Firmen hießen «zivilrechtliche Gesellschaften» oder «GmbH», und ihre juristische Einordnung und Besteuerung stellten den Staat zunächstvor große Probleme. Vor allem hatte man Angst, diese flexiblen und nur schwer kontrollierbaren Firmen könnten zu Konkurrenten der schwerfälligen staatlichen Dienstleistungsindustrie werden. Dies traf auch auf die Warenhauskette «Skála» zu, die sich mit ihrer modernen Handelsphilosophie und aufgrund der gelockerten Importmöglichkeiten auf Lücken in der Mangelwirtschaft spezialisierte. Andererseits wurde das staatliche Eigentum für den Staat selbst zu einer Last, von der er sich
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